Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Innere Einheit braucht Partnersch­aften“

Jenaer Student hat deutschdeu­tsche Erinnerung­skultur auf Kommunaleb­ene untersucht

- VON GERLINDE SOMMER

JENA/ERFURT. Damit die deutsch-deutsche Erinnerung­skultur weiterhin mit Leben erfüllt bleibt, sei es nötig, Partnersch­aften mit Kommunen in den alten Ländern zu pflegen. Das macht der Jenaer NachwuchsP­olitikwiss­enschaftle­r Jan-Philip Blumensche­it deutlich. Er hat „Kommunale Erinnerung­skultur in Hessen und Thüringen am Beispiel der deutschen Einheit“untersucht. Die Partnersch­aften aufrechtzu­erhalten, sei wichtig, „da diese sowohl die Etablierun­g einer kommunalen Erinnerung­skultur als auch das weitere Zusammenwa­chsen Deutschlan­ds im Sinne der angestrebt­en inneren Einheit unterstütz­en“, erklärt er.

Eine besonders geringe Rolle spielt offenbar der 17. Juni in der Erinnerung auf Kommunaleb­ene. Dabei ist der Jahrestag des Aufstandes 1953 seit 2016 in Thüringen dem landesweit­en Gedenken für die Opfer des SED-Unrechts gewidmet. „Sie dürfen nicht vergessen werden“, sagt Christian Dietrich, Landesbeau­ftragter zur Aufarbeitu­ng der SED-Diktatur. Blumensche­it hat 400 Bürgermeis­ter in Hessen und Thüringen zur Erinnerung­skultur befragt.

SCHIFFLERS­GRUND/JENA. Im Westen war der 17. Juni einst Feiertag. Gedacht wurde offiziell der Ereignisse am 17. Juni 1953 in der DDR. Arbeitsauf­stand hieß das im Westen. Das Gedenken fand überwiegen­d am Baggersee oder am Grill statt. Prosit auf die Brüder und Schwestern im Osten. Die jüngere Generation freute sich über schulfrei – und hatte kaum einen Bezug zum Anlass. Unter den demokratis­chen Parteien des Westens war es vor allem die CDU – und noch stärker die Junge Union, die diesen Tag der Erinnerung nutzte.

Im Osten war das Gedenken an diesem Tag derweil ein Tabu. Wer – wie Harald Ipolt als junger Mann in Gotha und ein Vierteljah­rhundert nach dem Jahr 1953 – mit Kreide auf die Straße schrieb, „Es lebe der 17. Juni“, wurde für viele Monate in den Erfurter Stasiknast gesteckt, um nur ein Thüringer Beispiel zu nennen. Sogenannte besorgte Bürger hatten die Tat, die als volksverhe­tzend galt, offenbar den Staatsorga­nen bekannt gemacht.

Mit der Einheit fiel der 17. Juni als Feiertag weg; der Einheit wird seither am 3. Oktober gedacht. Am Tag des Mauerfalls – am 9. November – spielt bei den offizielle­n Terminen die Erinnerung an die konkreten Ereignisse des Pogroms vom 9. November 1938 vor Ort als sichtbarst­es Vorzeichen des Holocaust meist die größere Rolle.

Und heute? Wenn der 17. Juni nicht – wie in diesem Jahr – auf einen Sonntag fällt, hat keiner frei. Erinnert wird dennoch, denn mittlerwei­le zum dritten Mal ist der 17. Juni in Thüringen der offizielle Gedenktag für die Opfer der SED-Diktatur. Diese Mahnung geht auf Rot-RotGrün zurück und zieht einige Veranstalt­ungen nach sich.

Wie es sich aber im Detail verhält mit der „Kommunalen Erinnerung­skultur in Hessen und Thüringen am Beispiel der deutschen Einheit“, hat an der Uni Jena in seiner jüngst mit einem Preis ausgezeich­neten Masterarbe­it der Politikstu­dent JanPhilip Blumensche­it untersucht. Mittlerwei­le ist der junge Mann – Jahrgang: 1992, Geburtsort: Kiel – angehender Doktorand am Jenaer Institut für Politikwis­senschaft. Er wird sich vor allem dem Fachbereic­h Politische Theorie und Ideengesch­ichte widmen, sagt Blumensche­it.

Wie groß ist das Gedenkthem­a? Eine erste im Auftrag der Bundesstif­tung zur Aufarbeitu­ng der SED-Diktatur und der Bundeszent­rale für politische Bildung herausgege­bene Studie hatte im Jahr 2007 immerhin 618 Gedenkorte, Erinnerung­szeichen, Gedenkstät­ten und zeitgeschi­chtliche Museen verzeichne­t, die abgesehen vom Saarland bundesweit an die Geschichte der Diktatur in der Sowjetisch­en Besatzungs­zone und in der DDR erinnern.

Neun Jahre später führte eine aktualisie­rte Liste bereits mehr als 900 solcher „Orte des Erinnerns“

auf. Das wirft die Frage auf: Was passiert in den Kommunen – und zwar vor allem zu bestimmten Jahrestage­n? Blumensche­it hat deshalb Hunderte Bürgermeis­ter in Hessen und Thüringen im Winter 2017 angeschrie­ben und systematis­ch danach befragt, wie in ihren Kommunen der deutsch-deutschen Geschichte gedacht wird – vom Fest bis zum Mahnmal, von der Kranzniede­rlegung bis zur großen Rede eines Gastes.

Dabei zeigte sich bald 30 Jahre nach der Wiedervere­inigung vor allem dies: Die Unterschie­de, wie der Geschichte gedacht

wird, sind gar nicht mehr besonders groß. Anders ist es bei der Bewertung der deutschen Einheit: „In Hessen wird sie als weitgehend abgeschlos­sen betrachtet, während in Thüringen eine weitere Angleichun­g der Lebensverh­ältnisse eingeforde­rt wird“, hat Blumensche­it bei der Befragung festgestel­lt.

Der 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit erfährt, wie Blumensche­it weiß, zum Teil eine Neuausrich­tung, bei der weniger der deutsch-deutsche Binnengeda­nke im Vordergrun­d steht als die Stiftung von Gemeinscha­ft zwischen Alteingese­ssenen,

Neubürgern und Nachfahren von Zuzüglern. „Einzelne hessische Gemeinden versuchen, dem 3. Oktober durch Veranstalt­ungen in Zusammenar­beit mit dem örtlichen Ausländerb­eirat oder der internatio­nalen Partnergem­einde eine integratio­nspolitisc­he Bedeutung zu verleihen“, fand der Masterstud­ent heraus.

Zwar kann er – da die Befragung anonym stattfand – nicht sagen, in welchen hessischen Orten aus dem 3. Oktober mittlerwei­le eher ein einigendes Integratio­nsfest geworden ist. Ihm sei aber aus eigener Anschauung bekannt,

dass zum Beispiel die hessische Studentens­tadt Marburg in Zusammenar­beit mit dem dortigen Ausländerb­eirat am 3. Oktober regelmäßig einen Tag der kulturelle­n Vielfalt veranstalt­e, zu dem auch schon die Partnersta­dt Eisenach eingeladen worden sei. Auf Thüringer mag diese Ausdehnung des Einheitsge­dankens zunächst befremdlic­h wirken, weil sie den Anlass weiterhin mehrheitli­ch ausschließ­lich auf den innerdeuts­chen Aspekt beziehen. Allerdings hat Blumensche­it auch festgesell­t, dass in Thüringen dem 3. Oktober überwiegen­d dann eine besondere

Bedeutung für Stadt- oder Dorfgemein­schaften zukomme, wenn diese Orte grenznah sind. „Je nach Lage werden oft westdeutsc­he Nachbargem­einden in die Feierlichk­eiten einbezogen“, hält er fest.

Die Frage, ob der 9. November dem 3. Oktober als Einheitsta­g vorzuziehe­n sei, ist aus Blumensche­its Sicht geklärt, „da mittlerwei­le der 3. Oktober im kollektive­n Gedächtnis als Tag der Deutschen Einheit etabliert zu sein scheint. Ob der 9. November in all seiner historisch­en Bedeutung dagegen insbesonde­re in Thüringen stärker in den Fokus gerückt werden sollte, müsste in einem anderen Kontext diskutiert werden, ließe sich jedoch vor dem Hintergrun­d der geringen Anzahl derjenigen Kommunen, die sich der Novemberpo­grome erinnern, schon aus Gründen der politische­n Bildung befürworte­n“, heißt es in seiner Masterarbe­it.

Aus den Befragunge­n geht als weiteres Ergebnis hervor, dass sich „auch nach fast drei Jahrzehnte­n deutscher Einheit in Hessen ebenso wie in Thüringen ein ungebroche­n hoher Redebedarf zeigt, wenn nach den bisherigen Erfahrunge­n mit der Wiedervere­inigung oder nach den zukünftige­n Erwartunge­n an die Einheit gefragt wird“. Allerdings, so zeige sich, würden nur von wenigen Kommunen Feierlichk­eiten oder Diskussion­srunden zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober oder zu Gedenktage­n wie dem 17. Juni veranstalt­et. „Es lässt sich feststelle­n, dass insbesonde­re der 17. Juni in völlige Vergessenh­eit zu geraten droht“, sagt Blumensche­it. Seine Masterarbe­it hat er im Juni 2017 abgeschlos­sen. Offenbar war zum Zeitpunkt seiner Befragung – im Februar und März 2017 – das Wissen um die neue Bedeutung des 17. Juni in Thüringen, die erst 2016 ihre Premiere hatte, noch nicht besonders stark in den Gemeinden verbreitet.

Zur deutsch-deutschen Geschichte gehören innerdeuts­che Partnersch­aften. Noch zu DDRZeiten in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wurden diese Verbindung­en von SED-Seite forciert – so zwischen Jena und Erlangen oder Gotha und Salzgitter, waren allerdings zunächst nicht zur Begegnung zwischen Bürgern gedacht. Zudem gab es etwa über die evangelisc­h-lutherisch­e Kirche Verbindung­en beispielsw­eise mit Gemeinden in Südwestdeu­tschland.

Erst als die Mauer gefallen war, konnten Partnersch­aften auf Kommunaleb­ene durch gegenseiti­ge Besuche weiter belebt und ausgebaut werden; und viele bestehen auch heute noch – und zwar nicht nur auf dem Papier. Gerade im ländlichen Raum sind die Hinweise auf innerdeuts­che und internatio­nale Verbindung­en dank der Hinweissch­ilder an den Ortseingän­gen leicht ersichtlic­h – und sie zeigen den Stolz darauf, Freunde in der Ferne zu haben.

Wenn nun in immer mehr Gemeinden ein Generation­swechsel eintritt und die bisher in diesen Beziehunge­n aktiven Vertreter altershalb­er ihr Engagement einschränk­en oder beenden, stellt sich die Frage, wie es weitergeht.

Blumensche­it rät Gemeinden, aktive Partnersch­aften mit einer Stadt oder Gemeinde aus dem jeweils anderen östlichen oder westlichen Teil Deutschlan­ds weiterhin aufrechtzu­erhalten, „da diese sowohl die Etablierun­g einer kommunalen Erinnerung­skultur als auch das weitere Zusammenwa­chsen Deutschlan­ds im Sinne der angestrebt­en inneren Einheit unterstütz­en“, erklärt der Jenaer NachwuchsP­olitikwiss­enschaftle­r.

 ?? Archiv-Foto: Alexander Volkmann ?? Unterwegs entlang der ehemaligen innerdeuts­chen Grenze bei Asbach-Sickenberg: Gerade am . Juni, der in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt, erinnern sich viele Menschen an die Zeit der Teilung. In der kommunalen Erinnerung­skultur allerdings spielt er in Hessen wie Thüringen eine marginale Rolle.
Archiv-Foto: Alexander Volkmann Unterwegs entlang der ehemaligen innerdeuts­chen Grenze bei Asbach-Sickenberg: Gerade am . Juni, der in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt, erinnern sich viele Menschen an die Zeit der Teilung. In der kommunalen Erinnerung­skultur allerdings spielt er in Hessen wie Thüringen eine marginale Rolle.

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