Thüringische Landeszeitung (Jena)
Was wäre, wenn ...?
Der Streit von CDU und CSU um die Flüchtlingspolitik bringt die Koalition in Gefahr. Drei mögliche Szenarien
BERLIN. Am Tag nach dem politischen Beben zwischen CDU und CSU herrscht in Berlin die Ruhe vor dem Sturm. Kanzlerin Angela Merkel und ihr Bundesinnenminister, CSU-Chef Horst Seehofer, stehen sich in der Frage von Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze unversöhnlich gegenüber. Welche Szenarien gibt es im Berliner Machtkampf? 1 Was wäre, wenn die Kanzlerin Innenminister Seehofer entlässt? Die Gremien der CSU tagen am Montag in München. Die Parole hatte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt am Donnerstag schon ausgegeben: Die CSU stelle den Innenminister, die Frage der Zurückweisungen von Migranten an der Grenze falle demnach in seine Zuständigkeit. Bekommt Seehofer grünes Licht von Parteivorstand und Landesgruppe, wovon auszugehen ist, könnte er die Bundespolizei anweisen, an den Grenzen alle Flüchtlinge abzuweisen, zu denen bereits Daten aus anderen EU-Ländern vorliegen. In München heißt es, nötig wäre nur ein Anruf. Ob das sofort am Montag geschehen würde, ist fraglich.
Das Umfeld Merkels macht deutlich, dass die Kanzlerin die juristische Sicht der CSU nicht teilt. Der Minister würde also gegen ihren Willen handeln. Sie könnte ihn dann entlassen. Seehofer könnte die CSU-Minister abziehen, die Regierung aus Union und SPD wäre am Ende. Das müsste aber nicht das Ende der Unionsfraktionsgemeinschaft bedeuten, betonen beide Seiten. „Ein Bruch in der Fraktion an diesem Streit kann niemand zum Ziel haben. Das würde sowohl CDU als auch CSU beschädigen“, sagt der CSU-Abgeordnete Sebastian Brehm. Doch Merkel weiß, dass ein Rauswurf Seehofers auch ihr eigenes po- litisches Überleben infrage stellt. Ob sie dann im Bundestag die Vertrauensfrage stellen müsste oder ein konstruktives Misstrauensvotum möglich wäre: Am Freitag wollte diese Möglichkeit noch niemand durchdeklinieren.
Im Umfeld beider Protagonisten ist von Einigungswillen eher nicht die Rede. Merkel sitzt am Freitag bei einem Festakt im Wirtschaftsministerium, neben ihr Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Der SPD-Politiker sagt in Richtung Union: „Die Aufgabe, unser Land zu regieren, ist keine Folge von ‚Game of Thrones‘, sondern eine ernste Angelegenheit.“In der Fantasy-Serie geht es um Machtkämpfe von Herrscherhäusern. 2 Was wäre, wenn die Kanzlerin nachgibt?
Der CDU-Fraktionsteil stärkte Merkel zunächst den Rücken. Der Grund ist jedoch vor allem das Auftreten der CSU. Allerdings ist auch unter den CDUBundestagsabgeordneten die Stimmung schlecht, gerade nach dem Mord an der 14-jährigen Susanna durch einen abgelehnten Asylbewerber. „Viele wollen einfach eine Symbolhandlung, weil staatliche Behörden in der Flüchtlingskrise ganz offensichtlich an so vielen Stellen versagt haben“, sagt ein Abgeordneter. Die Zurückweisung an der Grenze wäre so ein symbolischer Akt. Zudem sollte Merkel klarer ihre Positionen erklären. Der Verweis auf europäische Lösungen klinge nach einem Ausweichmanöver.
Merkel könnte also zu der Einsicht kommen, dass ein Entgegenkommen die Union befrieden
und ihre Kanzlerschaft in ruhigeres Fahrwasser bringen würde. Zumal Union und SPD zusammen 399 Sitze im Bundestag haben und damit die Mehrheit der 709 Sitze. Doch ohne die CSU, die 46 Sitze hat, blieben nur 353. Das würde nicht reichen. Vielleicht schafft sie eine gesichtswahrende Lösung bis zum EU-Gipfel. Dass sie inhaltlich nachgibt, ist sehr unwahrscheinlich. 3 Was wäre, wenn es einen Kompromiss gibt?
Die Kompromisslinien, die es bisher gibt, lassen sich kaum verbinden. Merkel ist am Mittwochabend im Kanzleramt in zwei Punkten auf die CSU zugegangen: Zum einen sollen Asylbewerber, die nach einem abgelehnten Antrag erneut einreisen wollen, zurückgewiesen werden. Zum anderen will sie nun statt der gesamteuropäischen Lösung möglichst bis zum EUGipfel Ende Juni bilaterale Abkommen mit anderen EU-Staaten für die Rücknahme aushandeln. Alle seien sich einig, dass Asylanträge in dem Land bearbeitet werden sollten, wo die Flüchtlinge registriert seien. Dazu trifft sie sich am Montag mit dem italienischen Ministerpräsidenten Guiseppe Conte. Am Dienstag empfängt sie den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Die CSU hatte vorgeschlagen, sofort mit der Zurückweisung an der Grenze zu beginnen – dies aber bei einem Erfolg des EU-Gipfels wieder zu beenden. Zudem wollte die CSU jetzt schon weitere Zurückweisungen an den Grenzen beschließen – für den Fall, dass Verhandlungen auf EU-Ebene scheitern, hieß es. Auch dies habe Merkel abgelehnt.
Merkel erkennt zwar den Abschreckungsmoment an, mit dem die CSU argumentiert. Aber eine Zurückweisung an der deutschen Grenze würde bewirken, dass Flüchtlinge einfach die grüne Grenze nutzen würden. Und am Dienstag warnte sie: „Ich glaube, dieses Thema hat das Potenzial, Europa – dem Raum der Freizügigkeit, dem Schengen-Raum – schweren Schaden zuzufügen.“
Selbst wenn Merkel und Seehofer sich noch einmal verständigen können – der Riss in der Beziehung der beiden dürfte kaum zu kitten sein. Dass beide in ihren Ämtern die gesamte Legislaturperiode beenden, darauf will keiner wetten.