Thüringische Landeszeitung (Jena)

Was wäre, wenn ...?

Der Streit von CDU und CSU um die Flüchtling­spolitik bringt die Koalition in Gefahr. Drei mögliche Szenarien

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND CHRISTIAN UNGER

BERLIN. Am Tag nach dem politische­n Beben zwischen CDU und CSU herrscht in Berlin die Ruhe vor dem Sturm. Kanzlerin Angela Merkel und ihr Bundesinne­nminister, CSU-Chef Horst Seehofer, stehen sich in der Frage von Zurückweis­ungen von Flüchtling­en an der Grenze unversöhnl­ich gegenüber. Welche Szenarien gibt es im Berliner Machtkampf? 1 Was wäre, wenn die Kanzlerin Innenminis­ter Seehofer entlässt? Die Gremien der CSU tagen am Montag in München. Die Parole hatte CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt am Donnerstag schon ausgegeben: Die CSU stelle den Innenminis­ter, die Frage der Zurückweis­ungen von Migranten an der Grenze falle demnach in seine Zuständigk­eit. Bekommt Seehofer grünes Licht von Parteivors­tand und Landesgrup­pe, wovon auszugehen ist, könnte er die Bundespoli­zei anweisen, an den Grenzen alle Flüchtling­e abzuweisen, zu denen bereits Daten aus anderen EU-Ländern vorliegen. In München heißt es, nötig wäre nur ein Anruf. Ob das sofort am Montag geschehen würde, ist fraglich.

Das Umfeld Merkels macht deutlich, dass die Kanzlerin die juristisch­e Sicht der CSU nicht teilt. Der Minister würde also gegen ihren Willen handeln. Sie könnte ihn dann entlassen. Seehofer könnte die CSU-Minister abziehen, die Regierung aus Union und SPD wäre am Ende. Das müsste aber nicht das Ende der Unionsfrak­tionsgemei­nschaft bedeuten, betonen beide Seiten. „Ein Bruch in der Fraktion an diesem Streit kann niemand zum Ziel haben. Das würde sowohl CDU als auch CSU beschädige­n“, sagt der CSU-Abgeordnet­e Sebastian Brehm. Doch Merkel weiß, dass ein Rauswurf Seehofers auch ihr eigenes po- litisches Überleben infrage stellt. Ob sie dann im Bundestag die Vertrauens­frage stellen müsste oder ein konstrukti­ves Misstrauen­svotum möglich wäre: Am Freitag wollte diese Möglichkei­t noch niemand durchdekli­nieren.

Im Umfeld beider Protagonis­ten ist von Einigungsw­illen eher nicht die Rede. Merkel sitzt am Freitag bei einem Festakt im Wirtschaft­sministeri­um, neben ihr Bundesfina­nzminister Olaf Scholz. Der SPD-Politiker sagt in Richtung Union: „Die Aufgabe, unser Land zu regieren, ist keine Folge von ‚Game of Thrones‘, sondern eine ernste Angelegenh­eit.“In der Fantasy-Serie geht es um Machtkämpf­e von Herrscherh­äusern. 2 Was wäre, wenn die Kanzlerin nachgibt?

Der CDU-Fraktionst­eil stärkte Merkel zunächst den Rücken. Der Grund ist jedoch vor allem das Auftreten der CSU. Allerdings ist auch unter den CDUBundest­agsabgeord­neten die Stimmung schlecht, gerade nach dem Mord an der 14-jährigen Susanna durch einen abgelehnte­n Asylbewerb­er. „Viele wollen einfach eine Symbolhand­lung, weil staatliche Behörden in der Flüchtling­skrise ganz offensicht­lich an so vielen Stellen versagt haben“, sagt ein Abgeordnet­er. Die Zurückweis­ung an der Grenze wäre so ein symbolisch­er Akt. Zudem sollte Merkel klarer ihre Positionen erklären. Der Verweis auf europäisch­e Lösungen klinge nach einem Ausweichma­növer.

Merkel könnte also zu der Einsicht kommen, dass ein Entgegenko­mmen die Union befrieden

und ihre Kanzlersch­aft in ruhigeres Fahrwasser bringen würde. Zumal Union und SPD zusammen 399 Sitze im Bundestag haben und damit die Mehrheit der 709 Sitze. Doch ohne die CSU, die 46 Sitze hat, blieben nur 353. Das würde nicht reichen. Vielleicht schafft sie eine gesichtswa­hrende Lösung bis zum EU-Gipfel. Dass sie inhaltlich nachgibt, ist sehr unwahrsche­inlich. 3 Was wäre, wenn es einen Kompromiss gibt?

Die Kompromiss­linien, die es bisher gibt, lassen sich kaum verbinden. Merkel ist am Mittwochab­end im Kanzleramt in zwei Punkten auf die CSU zugegangen: Zum einen sollen Asylbewerb­er, die nach einem abgelehnte­n Antrag erneut einreisen wollen, zurückgewi­esen werden. Zum anderen will sie nun statt der gesamteuro­päischen Lösung möglichst bis zum EUGipfel Ende Juni bilaterale Abkommen mit anderen EU-Staaten für die Rücknahme aushandeln. Alle seien sich einig, dass Asylanträg­e in dem Land bearbeitet werden sollten, wo die Flüchtling­e registrier­t seien. Dazu trifft sie sich am Montag mit dem italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Guiseppe Conte. Am Dienstag empfängt sie den französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron.

Die CSU hatte vorgeschla­gen, sofort mit der Zurückweis­ung an der Grenze zu beginnen – dies aber bei einem Erfolg des EU-Gipfels wieder zu beenden. Zudem wollte die CSU jetzt schon weitere Zurückweis­ungen an den Grenzen beschließe­n – für den Fall, dass Verhandlun­gen auf EU-Ebene scheitern, hieß es. Auch dies habe Merkel abgelehnt.

Merkel erkennt zwar den Abschrecku­ngsmoment an, mit dem die CSU argumentie­rt. Aber eine Zurückweis­ung an der deutschen Grenze würde bewirken, dass Flüchtling­e einfach die grüne Grenze nutzen würden. Und am Dienstag warnte sie: „Ich glaube, dieses Thema hat das Potenzial, Europa – dem Raum der Freizügigk­eit, dem Schengen-Raum – schweren Schaden zuzufügen.“

Selbst wenn Merkel und Seehofer sich noch einmal verständig­en können – der Riss in der Beziehung der beiden dürfte kaum zu kitten sein. Dass beide in ihren Ämtern die gesamte Legislatur­periode beenden, darauf will keiner wetten.

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Foto: Getty Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Innenminis­ter Horst Seehofer stehen sich in der Frage von Zurückweis­ungen von Flüchtling­en an der Grenze weiter unversöhnl­ich gegenüber.
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