Thüringische Landeszeitung (Jena)

Jenaer Straßenbah­nen wurden zu Barrikaden gegen die Sowjetpanz­er

Gedenken an den Volksaufst­and von 1953 – Kranzniede­rlegung an diesem Sonntag

- VON IMMANUEL VOIGT

JENA. Nur dreieinhal­b Jahre nach der Staatsgrün­dung steckte die DDR in einer handfesten Krise. Zwar hatte Mitte Juli 1952 Walter Ulbricht auf der 2. Parteikonf­erenz der SED noch stolz unter dem Beifall der Genossen den „planmäßige­n Aufbau des Sozialismu­s“verkündet, praktisch verschärft­e dieser Schritt aber die Kluft zwischen Partei und Volk. So sorgte die „Bodenrefor­m“mit ihren Zwangsente­ignungen für Unmut und für eine „Abstimmung mit den Füßen“, da zehntausen­de DDRBürger das Land gen Westen verließen.

In einer ersten Welle versuchte die Staatsführ­ung außerdem durch Steuererhö­hungen Handwerker, Einzelhänd­ler und Privatunte­rnehmer zu zwingen, ihre Firmen in einen VEB zu überführen. Reichte dieses Druckmitte­l nicht aus, griff eine verschärft­e Strafverfo­lgung. Zur Jahresmitt­e 1952 saßen etwa 60000 Häftlinge in DDR-Gefängniss­en. Eine nicht unwesentli­che Rolle spielten auch die Repressali­en gegen die Evangelisc­he Kirche, die sich etwa in Schulverwe­isen und Enteignung­en widerspiel­gelte.

Schließlic­h belastete die stetig voranschre­itende Staatsvers­chuldung, bedingt durch Reparation­szahlungen an die Sowjets und hohe Rüstungsau­sgaben, die DDR zunehmend. Hinzu kam wirtschaft­liche Fehlplanun­g, da vorwiegend in die Schwerindu­strie investiert wurde, sodass die dringend notwendige Finanzieru­ng der Nahrungsmi­ttelund Konsumgüte­rindustrie fehlte, wodurch sich Lebensmitt­el und andere Dinge des täglichen Bedarfes nicht nur verknappte­n, sondern auch drastisch verteuerte­n. Die Genossen wussten sich nicht anders zu helfen, als der Entwicklun­g Mitte Mai 1953 mit Arbeitsnor­merhöhunge­n zu begegnen, um die Produktivi­tät zu steigern. Aus Sicht der damaligen Bevölkerun­g setzte dieser Schritt dem Ganzen die Krone auf. Unterdesse­n erkannte man in der Sowjetunio­n die Fehler der „Brüder“und befahl eine Kehrtwende, indem man die SED zu einem „Neuen Kurs“zwang. Dieser wurde Anfang Juni 1953 durch das zentrale Organ der Partei „Neues Deutschlan­d“verkündet. Erstaunt rieb sich da mancher Leser die Augen: Das erste und wohl auch das einzige Mal in der Geschichte der DDR gab die Staatsführ­ung ihre Fehler offen zu und gelobte Besserung. Die Bevölkerun­g erkannte hingegen darin vor allem die Bankrotter­klärung des Staates. Für viele war nun die Zeit reif, entscheide­nde gesellscha­ftliche Veränderun­gen zu fordern, nachdem die Partei die Zügel lockern wollte. Erstmals fassten Menschen in der DDR den Mut, gegen das System und die unhaltbar gewordenen Zustände aufzubegeh­ren. Vielerorts kam es schon am 12. Juni 1953 zu ersten Protesten. Richtig an Fahrt gewann die Entwicklun­g, als am 16. Juni in Ost-Berlin etwa 10 000 Menschen auf die Straße gingen und protestier­ten. Durch dieses Ereignis angespornt, kam es auch in Jena im VEB Carl Zeiss zu Überlegung­en, sich an den Protesten zu beteiligen. Am Morgen des 17. Juni war es soweit: Um 8 Uhr begann in der Gießerei des Südwerkes der Streik, Forderunge­n nach dem Sturz der Regierung wurden schnell laut. Eine Viertelstu­nde später stellte man auch im Hauptwerk am Teichgrabe­n die Arbeit ein. Um 9 Uhr kam es zu einer Kundgebung vor Ort, bei der unter anderem eine Erhöhung der Löhne und Senkung der Lebensmitt­elpreise um 40 Prozent gefordert wurden.

Wichtig war auch die Wiederhers­tellung und Sicherung des Zeiss-Statutes, das durch die SED schrittwei­se unterhöhlt und damit ausgeschal­tet wurde. Schnell gesellten sich weitere Menschen zu dieser Demonstrat­ion hinzu, gegen 10 Uhr strömten etwa 3500 Personen, vorwiegend Werktätige von Zeiss, Schott und Jenapharm, gen Holzmarkt. Eine Stunde später war bereits die SED-Kreisleitu­ng gestürmt, Kreisleite­r Merx hatte zuvor vergeblich versucht, die Menschen zu beruhigen.

Die Wut der Menge entlud sich auch gegen andere Gebäude, in denen staatliche Stellen untergebra­cht waren. Unter anderem wurden das FDGB-Haus in der Bachstraße, die MfSKreisdi­enststelle in der Humboldtst­raße und die Gebäude von FDJ, GST und DSF verwüstet. Zentraler Platz der Proteste blieb allerdings der Holzmarkt. Immer lauter wurden nun die Forderunge­n der Protestler: „Sturz der Regierung“, „Freie Wahlen“, „Weg mit der HO!“, „Weg mit der Volkspoliz­ei!“.

Zeitgleich fanden sich etwa 1500 Menschen vor der Untersuchu­ngshaftans­talt Am Steiger ein, verschafft­en sich gewaltsam Zutritt zum Gebäude und befreiten 61 Gefangene. Am Holzmarkt war die Lage unterdesse­n unveränder­t, von einer geordneten Kundgebung konnte allerdings keine Rede sein. Nach verschiede­nen Berichten kamen bis etwa 14 Uhr 25 000 bis 30 000 Menschen zum Ort des Geschehens. Die Situation verschärft­e sich, als sowjetisch­es Militär zunächst die SED-Kreisleitu­ng

UdSSR zwang den „Bruder“zur Kehrtwende

„zurückerob­erte“und dort acht Personen, unter ihnen Walter Scheler, Herbert Bähnisch und Alfred Diener, festnahm. Gegen 15.30 Uhr rückten schließlic­h sowjetisch­e T-34 Panzer in die Innenstadt vor. Es begann das „Straßenbah­nspiel“, denn etliche Jenenser schoben die auf dem Holzmarkt stehenden Wagen der Tram unter dem Jubel der übrigen Demonstran­ten den Panzern als Barrikaden in den Weg. Vermehrt kam es auch zu Sitzblocka­den. Daraufhin gaben sowjetisch­e Soldaten erste Warnschüss­e ab, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Ab 17 Uhr wurde über Jena der Ausnahmezu­stand verhängt, sodass sich die Menge allmählich wieder zerstreute. Anschließe­nd kam es zu einer Welle von weiteren Verhaftung­en.

Schon einen Tag nach dem Aufstand begann die Strafverfo­lgung durch den Staat. Insgesamt wurden über 50 Todesurtei­le und Hinrichtun­gen verhängt, von denen manche bis heute ungeklärt sind. Belegt ist hingegen der Tod des Jenaer Schlossers Alfred Diener, der am 18. Juni 1953 in Weimar durch sowjetisch­es Militär als angebliche­r Rädelsführ­er standrecht­lich erschossen wurde. Heute erinnert eine Straße in Lobeda-West und eine Gedenktafe­l an der Sparkasse am Holzmarkt an sein Schicksal. Unterdesse­n führten die Mühen und Opfer der DDR Bevölkerun­g (noch) nicht zum Ziel. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bringt es treffend auf den Punkt: „Der Volksaufst­and hatte auch deshalb keine Chance, erfolgreic­h zu sein, weil die politische Großwetter­lage eine Veränderun­g des Status quo weder vorsah noch zuließ. Daran waren weder die Westmächte noch die Supermacht Sowjetunio­n interessie­rt.“

Die Ereignisse des 17. Juni 1953 sind heute vielerorts aus dem Gedächtnis der Bevölkerun­g verschwund­en. Glückliche­rweise ist das in Jena nicht der Fall, wie die morgige Gedenkvera­nstaltung beweist. Dem Vergessen wird so aktiv Einhalt geboten.

• Sonntag, . Uhr, Kranzniede­rlegung an der Gedenktafe­l am Gebäude der Sparkasse, Löbdergrab­en.

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Auch in der Löbderstra­ße rollten die Panzer.
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Foto: Immanuel Voigt Die Gedenktafe­l in Jena.

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