Thüringische Landeszeitung (Jena)
Auf den Spuren des „Huh!“
Island war die Überraschung der EM 2016. Sonnabend startet das Team in die WM. Ein Besuch bei Trainer Hallgrímsson
HEIMAEY. Wer den Erfolg von Islands Fußball-Nationalmannschaft verstehen will, braucht einen starken Magen. Seit zweieinhalb Stunden kämpft sich Herjólfur nun schon durch den Atlantik. Wind und Wellen lassen die kleine Autofähre so heftig schwanken, dass die Passagiere abwechselnd Meer oder Himmel durch die nassen Scheiben sehen. Die meisten Fahrgäste sind längst unter Deck verschwunden. Dem Magen zuliebe. Heimir Hallgrímsson gehört nicht zu ihnen.
Für Islands Nationaltrainer ist die dreistündige Überfahrt nach Heimaey Routine. Die VulkanInsel vor der Südküste Islands ist sein Zuhause. Hier ist er geboren, aufgewachsen, hier hat er bei Íþróttabandalag Vestmannaeyja das Kicken gelernt. Schon mit 17 Jahren merkte er aber, dass er anderes noch viel lieber mag: andere trainieren.
Geprägt von großem Unglück
Doch der Fußball führt Hallgrímsson nicht nach Hause. Die meiste Arbeit als Nationaltrainer spielt sich schließlich in Reykjavík ab, wo der 51-Jährige ebenfalls eine Wohnung hat. Hallgrímsson ist unterwegs zu seinem zweiten Job. Trotz seiner Beförderung zum alleinigen Cheftrainer vor zwei Jahren arbeitet der Zahnarzt weiter in seiner Praxis. „Ich mag es, mit meinen Händen zu arbeiten. Das entspannt mich.“
Entspannung braucht Hallgrímsson in den letzten Jahren immer dringender. Seit Islands furiosem Auftritt bei der EM 2016 ist der Hype um das Team nicht abgeebbt. Halb Europa verliebte sich damals in das Überraschungsteam aus dem Norden, in seinen Kampfgeist und die leidenschaftlichen Fans, deren Wikingerschlachtruf berühmt wurde. Plötzlich feierten Kinder auf deutschen Bolzplätzen ihre Tore mit einem „Huh!“.
Und Island legte nach, schaffte zum ersten Mal in seiner Geschichte die WM-Qualifikation.
Die Erklärung für diesen Erfolg findet man auf Heimaey. Fünf Minuten Autofahrt vom Hafen entfernt liegt das Sportzentrum, 1500 Zuschauer fasst das Stadion Hásteinvöllur – Heimaey hat 4300 Einwohner. Viel Geld ist in den vergangenen 20 Jahren in den Sport investiert worden. Doch dass Islands Fußballer dank Hallen und Kunstrasen nun endlich auch im Winter trainieren können, reicht allein nicht. Entscheidend ist etwas anderes: die Mentalität.
Auf Heimaey war die einst besonders nötig. Am 23. Januar 1973, Hallgrímsson war fünf Jahre alt, spuckte die Insel Feuer. Wenige hundert Meter vom Stadtkern entfernt bildete sich ohne Vorwarnung ein neuer Vulkan. Der Eldfell begrub Häuser unter Asche, Lava strömte Richtung Hafen. Dass keiner der 5000 Einwohner starb, lag an einem glücklichen Zufall. In der Nacht zuvor war das Wetter so schlecht, dass die Fischer nicht aufs Meer hinausfahren konnten. Alle Kutter lagen im Hafen – und boten genug Schutz.
Eines weiß Hallgrímsson seitdem: Menschen können große Kräfte entwickeln, wenn sie zusammenhalten. Wer Lava davon abhalten kann, den einzigen Hafen zu zerstören, der kann auch andere scheinbar übermächtige Gegner bezwingen.
Starkult findet auf Island kaum Platz. Wenn Heimir Hallgrímsson durch die Sporthallen läuft, ist er nicht der Nationaltrainer. Er ist Nachbar, Freund, Verwandter. Ein kurzer Plausch hier, Abklatschen mit den Nachwuchskickern da. Man muss sich das einmal klar machen: Der Nationaltrainer steht in der Halle, und niemanden interessiert’s. „Warum auch? Sie spielen Fußball“, sagt Hallgrímsson. „Der Einzelne ist nicht so wichtig.“Es zählt die Gemeinschaft. „Der Teamspirit ist unsere stärkste Botschaft an die Welt.“
Plötzlich läuft ein Junge an Hallgrímsson vorbei. Rückennummer 10. Messi. „Sofort ausziehen!“Hallgrímsson lacht. Argentinien ist an diesem Sonnabend (15 Uhr/ZDF) Islands erster Gegner bei dieser WM. „Es ist irgendwie romantisch, Argentinien in der Gruppe zu haben. Du spielst gegen die besten Fußballer der Welt“, schwärmt der Trainer.
Ein bisschen nervös sei er trotzdem. Kroatien und Nigeria sind die weiteren Gruppengegner. „Es ist gut für uns, in einer schwierigen Gruppe zu sein. Dadurch können wir uns weiterentwickeln“, glaubt Hallgrímsson. „Danach kann es ja nicht mehr schlimmer werden.“Danach?