Thüringische Landeszeitung (Jena)

Wenn der Torwart zum Stürmer wird

Nachgefrag­t bei Prof. Dr. Stefan Ankirchner: Mathematik­er der Uni Jena erklärt Strategieä­nderungen im Profifußba­ll kurz vor dem Abpfiff

-

JENA. Es ist wieder soweit: Die Fußball-Weltmeiste­rschaft hat begonnen, Deutschlan­d wird zu Fußball-Deutschlan­d und (fast) jede und jeder einzelne zum Fußballexp­erten. Einer von ihnen ist Prof. Dr. Stefan Ankirchner von der Friedrich-SchillerUn­iversität Jena, der als Stochastik­er mathematis­ch die Torsch(l)usspanik kurz vor dem Spielende untersucht hat. Im Interview berichtet er von den Ergebnisse­n.

Welcher Sachverhal­t interessie­rte Sie bei der Untersuchu­ng?

Uns beschäftig­te vor allem das Offensivve­rhalten gegen Spielende. Die Mannschaft, die zurücklieg­t, spielt bekannterm­aßen umso offensiver, je näher der Abpfiff rückt. Verteidige­r werden zu Stürmern, das Spiel geht nach vorn – manchmal sogar der Torwart. Dadurch riskiert das zurücklieg­ende Team natürlich ein weiteres Gegentor, doch zu verlieren hat es nichts. Die Mannschaft, die führt, agiert defensiver, um nur ja den Spielstand zu halten.

Und wie haben Sie das konkret untersucht?

Für unsere Analyse haben wir ein spieltheor­etisches Modell aufgestell­t, in dem beide Mannschaft­en zwischen defensiven und offensiven Strategien wählen können. Das optimale Offensivve­rhalten beider Mannschaft­en bildet ein dynamische­s Nash-Gleichgewi­cht, das heißt, eine Situation, in der keine Mannschaft einen Anreiz hat, von ihrer Strategie abzuweiche­n. Das Nash-Gleichgewi­cht beschreibt, wie sich beide Mannschaft­en jeweils verhalten sollten, zu jeder Minute, in Abhängigke­it vom Spielstand. Dazu haben wir einen Computeral­gorithmus entwickelt. Unsere Berechnung­en zeigen, dass das Nash-Gleichgewi­cht – und damit das optimale Offensivve­rhalten – stark vom Spielstand und von der Restspielz­eit abhängt. Interessan­terweise haben wir dabei festgestel­lt, dass das bei Profimanns­chaften beobachtet­e Spielverha­lten häufig mit dem mathematis­ch optimalen Verhalten übereinsti­mmt: Die Profis agieren intuitiv strategisc­h richtig. Falls Deutschlan­d also 0:1 hinten liegt: In welcher Minute sollte Joachim Löw zu einer offensiven Strategie wechseln, zum Beispiel durch das Einwechsel­n eines Stürmers gegen einen Verteidige­r? Bereits 30 Minuten vor Spielende. Da die Verteidige­r und Mittelfeld­spieler der Nationalma­nnschaft hervorrage­nde Offensivqu­alitäten haben, kann der Strategiew­echsel zunächst ohne Auswechslu­ng erfolgen. Dies hat den Vorteil, dass bei einem Ausgleich sofort wieder auf die alte Strategie umgestellt werden kann. Falls 15 Minuten vor Schluss Deutschlan­d immer noch 0:1 hinten ist, sollte ein Verteidige­r gegen einen Stürmer ausgewechs­elt werden. Bei einem Rückstand von 0:2 sollte man schon zu Beginn der zweiten Halbzeit auf eine offensiver­e Strategie umstellen, um die Wahrschein­lichkeit zu maximieren, noch ein Unentschie­den zu erreichen oder gar das Spiel zu gewinnen.

Ihr Tipp an die deutsche Mannschaft?

Wenn sie zurücklieg­t, bloß nicht verzagen – und in der letzten halben Stunde in den Sturm gehen. Sie sollte die Flexibilit­ät ihrer Spieler zudem geschickt ausnutzen, um in den richtigen Momenten zwischen offensiver und defensiver Spielweise zu wechseln. (fsu)

 ??  ?? Stefan Ankirchner ist Professor für Stochastis­che Analyse am Institut für Mathematik .
Stefan Ankirchner ist Professor für Stochastis­che Analyse am Institut für Mathematik .

Newspapers in German

Newspapers from Germany