Thüringische Landeszeitung (Jena)

Über Krisen

- VON JOE LITTLE

Schon das Eröffnungs­spiel war kaum auszuhalte­n. Natürlich boykottier­en wir wegen des Rudelglotz­ens für die nächsten Wochen unseren Saloon und campieren lieber auf dem Anger hinter der Scheune, doch das Geschrei der euphorisie­rten Fanatiker schallt durch ganz Holzdorf. An der kollektive­n Resonanz können wir den Spielstand ablesen. „Was soll das erst morgen gegen Mexiko werden?“, fragt der zumindest akustisch äußerst sensible Bill. – „Ach!“, stöhnt Jack. „Da legst du die Ohren an. Wir sind Gauchos!“

Viel schlimmer, doziert unser Alter, während er am Grill die Würste wendet, sei es, dass sämtliche demokratis­che Regierunge­n die globale FußballBes­offenheit ausnutzten, um unpopuläre Entscheidu­ngen durchzupau­ken. In Deutschlan­d zum Beispiel wolle der Bundestag eilends eine Erhöhung der Wahlkampfk­ostenersta­ttung für die Parteien beschließe­n. „Angeblich wegen der EiTiKosten“, erklärt Jack. „Twitter und Fratzenbuc­h machen halt Aufwand. Nicht mal die Blauen sind diesmal dagegen.“– „Das muss man verstehen“, spottet Dick. „Mazedonisc­he Häcker haben halt ihren Preis, und ohne Bots kommt kein Populist heutzutage mehr aus.“

Nicht mal Trump. Wie er die Kanadier beleidigt und den G7Gipfel habe platzen lassen, habe die Menschheit schon wieder völlig verdrängt, bemerkt Jack. Dabei würden wir die Folgen des Handelskri­egs alsbald zu spüren bekommen. „Spätestens in vier Wochen, nach der WM, folgt die brutale Ernüchteru­ng.“Dagegen sei das Treffen mit Kim in Singapur doch bloß Schaumschl­ägerei. Der Koreaner werde nie auf Atomwaffen verzichten. Die betrachte er als seine Lebensvers­icherung.

Aber die Weltwirtsc­haft, so Jack, gerät zusehends ins Stottern. „Dazu die aktuellen ZinsEntsch­eidungen der Zentralban­ken, die Regierungs­wechsel in Italien und Spanien. Es braut sich was zusammen über Europa.“– „Hauptsache“, ruft Dickie, der tief in BushfireFl­asche geblickt hat, „Hauptsache es gibt morgen kein Donnerwett­er beim MexikoSpie­l!“Wir lachen. Jack sagt: „Und wenn schon. Wir sind Gauchos!“Trotzdem gibt er zu: „Im Ernst, ich mache mir Sorgen. Die Welt tanzt auf dem Vulkan.“Da – zwitschert eine SMS von Milli auf meinem Mobiltelef­on ein. Ich kann es kaum fassen. Unsere Ex, die Mutter sämtlicher sieben SaloonKind­er, schreibt, sie habe den Knast in Neumünster und den Untergrund in Katalonien gut überstande­n, wolle sich nun aber mit Mona nach Uruguay absetzen. Ob wir nicht von Holzdorf endlich genug hätten? Ob wir nicht irgendwo in den Pampas hinter Montevideo eine neue Ranch aufziehen wollten?

Wir sind ratlos. Auswandern? Was wissen wir schon über Uruguay? „Ein KifferPara­dies“, krakeelt Dick sogleich. „Die haben als erstes Land der Welt Cannabis legalisier­t.“Jack hüstelt. Ich sage: „Wir könnten uns schon mal ein bisschen in Defätismus üben, indem wir morgen für Mexiko die Daumen halten.“„Hurra“, sagt Jack tonlos. „Wir sind Gauchos.“

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