Thüringische Landeszeitung (Jena)
„Todesstrafe aus erzieherischeen Gründen“
Vor 60 Jahren, am 17. Juni 1958, nimmt in Thüringen ein Drama seinen Lauf, das in einem Justizmord endet. Bereits vor Beginn des Prozesses gegen einen Grenzpolizisten wird die Todesstrafe festgelegt – vom späteren Staatschef Erich Honecker, von Stasi-Chef
Junge, geh zur Polizei. Da hast du einen anständigen Beruf, da hast du ein gutes Auskommen. Jetzt, nach dem Krieg, da ist die Polizei wieder etwas Besonderes. Eigentlich wollte Manfred Smolka Förster werden. Der Wald, die Jagd, das hatte den 17Jährigen schon immer begeistert. Aber natürlich, die Mutter hat ja nicht unrecht. Und überhaupt, das Geld. Die hungrigen Mäuler daheim, die Geschwister. Hatte er nicht schon all die Jahre zuvor beim Bauern geschuftet, hatte er nicht für Brennholz und für Kleidung gesorgt, damit es der Familie besser geht…
Thüringen, im Jahre 1948. Seit drei Jahren leben die Smolkas in Hohenleuben. Das Schiefergebirge ist für sie zur zweiten Heimat geworden. Vor fünf Jahren ist der Vater gefallen, schließlich floh die Familie vor der Roten Armee aus Schlesien. Endlich, so scheint es, gibt es einen Lichtstreif in ihrem Leben. Manfred erzählt seiner Mutter, dass ihn Werber in der Schule angesprochen hätten. Die Mutter redet ihm zu, ihrem Großen, der die Familie ernährt, der ihr ganzer Stolz ist. Ja, Junge, geh zur Polizei.
12 Jahre später wird Manfred Smolka kein geachteter Polizist mehr sein. Dann wird er als Verräter gebrandmarkt werden. Dann wird er im Zentrum eines Schauprozesses stehen. Dann wird er seine Richter anflehen, Gnade walten zu lassen. Dann wird er von seiner Familie erzählen, von seiner Frau und seiner Tochter, von seiner Mutter und seinen Geschwistern. Sie alle würde ein Todesurteil in den seelischen Abgrund reißen. Das Gefühl, mit schuld zu sein an diesem Urteil, werde vor allem seine Frau zeitlebens nicht verlassen.
Manfred Smolkas letzte Worte vor Gericht haben in der StasiUnterlagenbehörde die Zeitläufe überdauert. 42 Minuten und 25 Sekunden ist dieser Tonband-Mitschnitt lang. Wir hören einen Mann, der um Worte und um Fassung ringt. Er erzählt aus seinem Leben, er räumt Verfehlungen ein. Ich bitte, so wird der Angeklagte zum Schluss sagen, „eine gerechte Entscheidung zu treffen“. Eine gerechte Entscheidung? Ist gerecht, wenn ein Urteil bereits lange vor dem Prozess feststeht?
Der Prozess beginnt am 26. April 1960. Bereits ein Vierteljahr zuvor, am 14. Januar, unterbreitet ein Hauptabteilungsleiter der Staatssicherheit einen „Vorschlag für die Durchführung eines Prozesses gegen einen republikflüchtigen ehemaligen Offizier der Deutschen Grenzpolizei wegen Spionagetätigkeit“. In dem dreiseitigen Papier heißt es: „Das Verfahren ist geeignet, aus erzieherischen Gründen gegen Smolka die Todesstrafe zu verhängen.“Stasi-Minister Erich Mielke zeichnet den Vorschlag kurz und bündig ab: „einverstanden Mielke“. In den folgenden Wochen befassen sich auch der für Rechtsund Sicherheitsfragen zuständige SED-Sekretär Erich Honecker sowie Justizministerin Hilde Benjamin mit dem Fall. Am 25. April geht der Staatsanwaltschaft Erfurt eine kurze, gleichwohl unmissverständliche Ansage zu. „Verfahren gegen Smolka. Rücksprache Benjamin – Honecker. In diesem Verfahren ist Todesstrafe beschlossen.“
Der Prozess am Erfurter Bezirksgericht beginnt am Folgetag. Nach sechs Verhandlungstagen fällt das Urteil am 5. Mai 1960 wunschgemäß. Das Erfurter Bezirksgericht verurteilt Manfred Smolka als Spion zum Tode.
Wer war dieser ehemalige Grenzoffizier wirklich? Was hat er sich zu Schulden kommen lassen, dass sich einige der mächtigsten DDR-Funktionäre derart in seinen Prozess einmischten?
Die Geschichte dieses Justizmordes beginnt 1948, damals, als Manfred Smolka zur Deutschen Grenzpolizei geht. Ihre Angehörigen sind bewaffnet, die Einheiten sind militärisch organisiert. Formell sind sie dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt. Die wichtigste Aufgabe der Grenzpolizei ist, die innerdeutsche Grenze zu überwachen. Wer unerlaubt die Grenze übertritt oder dies versucht, soll verhaftet werden. DDR-Bürger, die sich in einem etwa 5 Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze aufhalten, müssen Passierscheine vorlegen können.
Manfred Smolka macht schnell Karriere. Er bringt es bis zum Oberleutnant, er wird Chef einer Grenzkompanie in Titschendorf (heutiger Saale-Orla-Kreis). „Innerhalb der Polizei wurde ich vertraut gemacht mit der Politik der Partei und der Regierung. Ich wusste, wohin der Weg führt. Ich wusste, was für Ziele und Aufgaben man sich gestellt hatte. Ich habe Begreifen gelernt, ich habe meinen Dienst versehen.“Smolka tritt sogar in die SED ein, er ist aber offenbar kein allzu überzeugter Genosse. Er habe nur „recht und schlecht an den Versammlungen teilgenommen“, heißt es in einer Beurteilung. „Zur Partei selbst kann kein gutes Verhältnis bestanden haben.“
Dann kommt der 17. Juni 1958. Es ist der fünfte Jahrestag des Volksaufstandes.
Die DDR-Machthaber befürchten Provokationen an der Grenze. Sie verschärfen die Sicherheitsbestimmungen. Dazu gehört, dass nicht in Grenznähe gearbeitet werden darf.
Manfred Smolka setzt sich darüber hinweg. Er kennt seine Bauern gut; er lässt sie auf ihre Felder. Das bleibt nicht unbemerkt. Die übergeordnete Dienststelle führt Kontrollen durch. Ein Kommandeur stellt Smolka zur Rede, er macht ihm scharfe Vorwürfe. Der Kritisierte reagiert impulsiv. Er reißt sich die Uniformjacke vom Leib, er wirft sie seinem Vorgesetzten vor die Füße.
Zwei Jahre später, vor Gericht, wird Manfred Smolka „eine schwere dienstliche Verfehlung“einräumen. „Ich bereue das. Ich habe das auch schon immer bereut, dass ich mich damals in dieser Weise dem Vorgesetzten gegenüber benommen habe. Denn ich war doch mit Lust und Liebe Soldat. Soldat, wie man sagt, von ganzem Herzen.“
Nach jenem 17. Juni 1958 bekommt Smolka eine Strafe nach der anderen aufgebrummt. Er muss in Arrest. Er wird zum Feldwebel degradiert. Er wird ins Hin-
„Rücksprache Benjamin – Honecker. In diesem Verfahren ist Todesstrafe beschlossen.“Anweisung aus Berlin
terland strafversetzt. Er wird aus der SED ausgeschlossen. Schließlich wird er zum 31. Oktober 1958 aus dem Dienst entlassen. „Ich konnte das nicht begreifen. Ich war seelisch gebrochen.“
Zwei Wochen später flüchtet Manfred Smolka nach Westdeutschland. Frau und Kind lässt er zurück.
Als ehemaliger Offizier kommt er sofort in die Obhut der amerikanischen Besatzer. Tagelang vernehmen sie den Geflüchteten. Auch einem Test am Lügendetektor muss sich Manfred Smolka unterziehen. Doch was gibt er preis? Vor dem Erfurter Gericht wird er später berichten, nur Angaben zu seiner Person gemacht zu haben.
Das Kommando der Deutschen Grenzpolizei gelangt zu einer gänzlich anderen Einschätzung. Im Januar 1960 erstellt es ein „Gutachten über die Preisgabe von Dienstgeheimnissen“. Es stellt Manfred Smolka als einen exzellenten Kenner der Grenzsicherung in Südthüringen dar. Er habe alles verraten, auch die Namen leitender Offiziere, die Truppenstärken und deren Bewaffnung.
Die Gutachter halten fest, „daß es sich bei allen von Smolka gemachten Angaben um die Preisgabe wichtiger militärischer Geheimnisse handelt, deren Kenntnis durch den Gegner sich in jedem Falle nachteilig auf die Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik auswirkt.“
Noch aber schreiben wir das Jahr 1958. Smolkas Verhöre durch die Amerikaner enden. Er kommt in ein Aufnahmelager für DDR-Flüchtlinge, wenig später zieht er nach Peisel in NordrheinWestfalen. Manfred Smolka bekommt sofort Arbeit. Eine Molkerei stellt ihn als Kraftfahrer ein.
In den folgenden Monaten reift immer mehr der Entschluss in ihm, Frau und Kind nachzuholen. Aber wie?
Der ehemalige Grenzer entschließt sich, die Familie genau dort über die Grenze zu holen, wo er selbst sich am besten auskennt. Nahe Titschendorf. Ein Freund aus Sonneberg bietet sich als Fluchthelfer an. Tatsächlich ist der Sonneberger ein auf ihn angesetzter Stasi-Spitzel.
Die Staatssicherheit legt einen sogenannten Operativvorgang an, er erhält den Decknamen „Verräter“. Jegliche Verräter gilt es zu fassen, zu verurteilen, zu bestrafen. So lautet das eiserne Prinzip.
Tatsächlich geht Manfred Smolka am 22. August 1959 in die Falle. An diesem Abend sollen Frau und Tochter an einem mit dem Sonneberger Freund besprochenen Grenzabschnitt nach Bayern flüchten.
Bereits Stunden zuvor rücken zwei Festnahmekommandos aus. Sieben Offiziere und Unteroffiziere verstecken sich unmittelbar an der Grenze. Acht weitere sichern das Hinterland ab. Sie sind handverlesen, sie gehören entweder der Stasi an oder der Grenzpolizei. Es sind Smolkas einstige Kameraden.
Gegen 18.05 Uhr bemerken die Festnahmegruppen, dass sich von westlicher Seite ein hellblauer Volkswagen nähert. Er bleibt etwa 100 Meter vor der Grenze stehen. Drei Männer steigen aus, einer ist Manfred Smolka. Er klettert auf einen Baum und sondiert das Gelände.
Frau und Tochter nähern sich der Grenze, sie werden vom vermeintlich besten Freund begleitet. Jetzt kann Smolka einfach nicht mehr warten. Er rennt der Familie entgegen, er springt über den Grenzbach, er steigt über eine Sperre aus Stacheldraht. Nun befindet er sich nur noch 10 Meter von den Häschern entfernt.
Die Festnahmegruppe tritt aus ihrem Versteck. Der Spitzel versucht, Smolka festzuhalten. Er kann sich losreißen, er rennt zurück, er überspringt den Stacheldraht. Ein Warnschuss wird abgegeben, zwei Feuerstöße aus einer Maschinenpistole folgen. Eine Kugel trifft Smolka am rechten Oberschenkel. Er stürzt, bleibt liegen, wird festgenommen.
Befindet sich Smolka zu diesem Zeitpunkt wieder auf westdeutschem Gebiet? Im Festnahmebericht der Stasi ist von „unmittelbar an der Grenze“die Rede. Der Verhaftete und auch die Bundesregierung werden dies später anders darstellen. Smolka sei von bundesdeutschem Gebiet aus entführt worden.
Manfred Smolka und seine Frau werden verhaftet und in ein Berliner Gefängnis überführt. Die Tochter wird in die Obhut ihrer Großmutter übergeben.
Wochenlange Verhöre folgen. Gutachten entstehen. Stasi-Chef Mielke stimmt zu, dass ein Schauprozess stattfinden soll. In dem von ihm abgesegneten „Vorschlag für die Durchführung eines Prozesses“heißt es: „Es ist beabsichtigt, den Prozess gegen den Beschuldigten Smolka vor 30 verantwortlichen Offizieren der Deutschen Grenzpolizei durchzuführen.“
Am 26. April 1960 beginnt die Verhandlung in Erfurt. Fünf Verhandlungstage sind angesetzt. Die Zahl der Prozessbeobachter ist noch größer als ursprünglich geplant. Nun sitzen 80 Offiziere im Gerichtssaal. Sie gehören der Grenzpolizei an, der Stasi und der Armee. Normale Bürger haben keinen Zutritt.
Am 5. Mai fällt das Urteil. Am 9. Juli lehnt DDR-Präsident Wilhelm Pieck das Gnadengesuch ab.
Am 12. Juli wird Manfred Smolka im Leipziger Gefängnis in die ehemalige Hausmeister-Wohnung geführt. Da, wo einst das Kinderzimmer war, steht eine Guillotine. Um 3.50 Uhr lässt der Henker das Beil herabstürzen. Das 29-jährige Opfer wird anonym verbrannt.
Smolkas Ehefrau wird zu vier Jahren Haft verurteilt. Sie erfährt erst nach ihrer Entlassung sowie nach mehrmaliger Nachfrage, dass ihr Mann nicht mehr lebt.
Erst mehr als 30 Jahre später wird der Fall erneut aktuell. Inzwischen ist die Mauer gebaut worden und wieder gefallen. Deutschland ist wiedervereint.
1993 wird Manfred Smolka rehabilitiert.
1994 muss sich sein Ankläger vor Gericht verantworten. Der einstige Staatsanwalt wird wegen Beihilfe zum Totschlag und wegen Rechtsbeugung zu einer Bewährungsund einer Geldstrafe verurteilt. Der falsche Freund aus Sonneberg kommt mit einer Bewährungsstrafe davon.
Erst nach der Wende erhält Manfred Smolkas Familie sein letztes Lebenszeichen, seinen Abschiedsbrief. Ihn hatte die Stasi zu DDR-Zeiten nie ausgehändigt.
„Meine liebe gute Muttel, liebe Geschwister, liebe Frau und mein liebes Kind! Soeben habe ich erfahren, dass mein Todesurteil vollstreckt wird, ich habe nur noch wenige Minuten zu leben“, so beginnt der Brief. Er endet mit einer Lebensweisheit. „Die Größe eines Menschen liegt in der Verzeihung, die er spenden kann, und Verzeihung ist das Schönste, was das Menschenherz uns gibt.“
„Die Größe eines Menschen liegt in der Verzeihung, die er spenden kann. Verzeihung ist das Schönste.“Manfred Smolka, Abschiedsbrief