Thüringische Landeszeitung (Jena)
Mutmaßlicher Mädchen-Mörder schweigt
Vor 27 Jahren soll er ein zehnjähriges Kind missbraucht und getötet haben
GERA/WEIMAR. Seit gestern steht ein 66-jährige Mann in Gera vor Gericht. Er wird beschuldigt, die zehnjährige Stephanie aus Weimar im August 1991 ermordet zu haben. Seine Festnahme in diesem März war ein Erfolg hartnäckiger polizeilicher Puzzlearbeit. Nun hat der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder begonnen. Wie Oberstaatsanwalt Ralf Mohrmann vor dem Landgericht Gera sagte, soll der Angeklagte sein Opfer damals aus dem Weimarer Goethepark gelockt und auf einem Waldweg missbraucht haben. Anschließend habe er dem Kind Beruhigungstabletten gegeben und es von der Teufelstalbrücke der A4 etwa 48 Meter in die Tiefe geworfen. Der Beschuldigte ließ durch seinen Anwalt erklären, er werde sich zunächst nicht zu den Vorwürfen äußern.
Wie Mohrmann am Rande der Verhandlung sagte, hat der einschlägig vorbestrafte Mann den Missbrauch zugegeben. Er könne dafür aber nicht mehr bestraft werden, da dies inzwischen verjährt sei. Was bleibe, sei der Vorwurf, dass er das Mädchen zur Verdeckung des Missbrauchs und einer sich daraus ergebenden erneuten Strafverfolgung tötete. Dies habe der Angeklagte bestritten. (dpa)
GERA. Pannen und nicht konsequent geführte Ermittlungen haben 27 Jahre lang die Aufklärung des Mordes an der zehnjährigen Stephanie aus Weimar mit verhindert. So hatte eine gleichaltrige Freundin des Mordopfers bereits 1995 auf einem Foto den Angeklagten als den Mann erkannt, mit dem Stephanie am
24. August 1991 im Weimarer Goethepark wegging. „Leider ist es nicht zur Gegenüberstellung gekommen“, bedauert gestern Carolin Böhme als Zeugin vor dem Landgericht in Gera.
Die Kriminaloberkommissarin war seit Ende 2016 in der damals neu gebildeten Soko „Altfälle“in Jena Ermittlungsführerin im Mordfall Stephanie. Ihr ist der Ermittlungserfolg wesentlich mit zu verdanken. Am
8. März dieses Jahres wurde Hans-Joachim G. in seiner Berliner Wohnung von Polizeispezialkräften festgenommen.
Seit gestern steht er wegen Mordes an der zehnjährigen Schülerin in Gera vor Gericht. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe. Der Angeklagte schweigt zu Beginn des Prozesses. Sein Verteidiger schließt aber nicht aus, dass sich der 66Jährige während des Verfahrens noch äußert. Unmittelbar nach seiner Verhaftung soll er ein Teilgeständnis abgelegt haben.
Trotzdem muss die 1. Strafkammer am Landgericht Gera einen Indizienprozess führen. Bis Januar 2019 sind elf weitere Verhandlungstage angesetzt. Die Ankläger können keine objektiven Beweise für die Schuld des ehemaligen Kraftfahrers anführen. Zudem lassen Fragen seines Verteidigers Stephan Ritter erkennen, dass er die Rechtmäßigkeit des Teilgeständnisses seines Mandanten anzweifeln könnte. Dem Angeklagten war bei seiner Festnahme von SEKBeamten unter anderem die Nase gebrochen worden.
Hans-Joachim G. räumt offenbar den sexuellen Missbrauch ein, soll aber bestreiten, sein Opfer von der Teufelstalbrücke gestoßen zu haben. Der sexuelle Missbrauch ist verjährt, deshalb lautet die Anklage auf Mord.
Die Staatsanwaltschaft ist sich sicher, dass er das hilflose Mädchen von der Brücke gestoßen hat, weil die Schülerin wegen der eingenommenen Tabletten nicht mehr ansprechbar war, wie es in der Anklage heißt.
Carolin Böhme schildert in ihrer knapp zwei Stunden dauernden Zeugenaussage detailliert, wie sie auf Hans-Joachim G. als mutmaßlichen Mörder gekommen ist. Mithilfe eines neuartigen Fallbearbeitungssystems kann sie alle während der Ermittlungen aufgetauchten Personen digital erfassen. Zudem erarbeitet sie sich anhand dessen, was über den Fall Stephanie bekannt ist, Kriterien, um diese Personen einzuordnen.
So sei bekannt gewesen, dass der Täter sich längere Zeit mit den Mädchen unterhalten haben muss. Dass er mit einem Auto unterwegs war und er der Schülerin Beruhigungstabletten verabreicht hat. Auch der sexuelle Missbrauch des Opfers und das Aussetzen an einem entlegenen Ort gehört zu den Kriterien.
Aus dem Verfahren kristallisiert sich eine Gruppe von 142 Personen heraus, bei denen Spuren offen geblieben sind. Diese vergleicht die Ermittlerin nun mit ihren insgesamt elf charakteristischen Kriterien aus dem Fall Stephanie. Letztlich entsteht so eine Rangfolge mit sechs besonders verdächtig erscheinenden Personen an der Spitze. Aber nur bei Hans-Joachim G. sollen alle elf Kriterien zutreffen.
Damit beginnt Carolin Böhme, sich alle Akten, alle Daten über ihren Hauptverdächtigen zu besorgen. Der 66-Jährige soll erstmals 1969 in der DDR wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden sein. Zwischen 1978 und 1979 saß er im sächsischen Waldheim im Gefängnis. Weitere Vorfälle tauchen 1990 und 1994 auf. 1996 verurteilte ihn das Landgericht Gera wegen sexuellen Missbrauchs zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe. Anschließend verbrachte der Angeklagte mehrere Jahre in der forensischen Psychiatrie, im Maßregelvollzug.
Das alles tragen die Ermittler zusammen. Dabei stoßen sie auch auf Stasi-Akten, die ausführlich Straftaten des Angeklagten zu DDR-Zeiten belegen. Die meisten anderen justizrelevante Dokumente aus dieser Zeit sind dagegen vernichtet.
Die gründliche Auswertung der Unterlagen fördert aber auch die Defizite früherer Ermittlungen zutage. Denn nicht nur die 1995 ausgelassene Gegenüberstellung von HansJoachim G. mit der Freundin des Mordopfers hätte ihn vielleicht schon frühzeitig überführen können.
Das mit den Ermittlungen der Soko „Altfälle“erstmals in Thüringen getestete Fallbearbeitungssystem zeigt auch, dass der Angeklagte bei einem weiteren Kindsmord, dem Fall Bernd B. von 1994 in Jena, als Verdächtiger geführt wird. Allerdings wurden bis zum vorigen Jahr die Erkenntnisse aus diesem Verfahren nie mit denen aus der Akte Stephanie abgeglichen.
Die neu gewonnenen Erkenntnisse zu Hans-Joachim G. stärkt auch ein Eintrag in der „ViCLAS“genannten Datenbank des Bundeskriminalamtes. Diese umfasst laut BKA „grundsätzlich nur Fälle der sexuell assoziierten Gewaltkriminalität“. Der 66-Jährige ist dort registriert. Eine Abfrage zum „Abgreifen von Kindern“, in Verbindung mit einem Fahrzeug und Medikamentengabe, ergibt einen Treffer, erklärt die Zeugin dem Gericht. Auch das hätte schon früher auffallen können.
Am 8. Januar erlässt das Amtsgericht Gera einen Durchsuchungsbeschluss für die Berliner Wohnung des Angeklagten. Über Wochen bereiten sich die Ermittler akribisch auf die Festnahme und das Verhör vor. Sie observieren den Kraftfahrer 24 Stunden am Tag, wissen bald alles über seine Lebensgewohnheiten, wann er beispielsweise Schlaftabletten nimmt, wann er am besten ansprechbar ist.
Das SEK sei bei der Festnahme zwei Monate später eingesetzt worden, erklärt Caroline Böhme, weil befürchtet wurde, der Verdächtige könnte nach dem Klingeln noch versuchen, Beweise zu vernichten. Das Kommando sollte möglichst schnell die Tür öffnen.
Laut Polizei hatte Hans-Joachim B. die Beamten dann aber in seiner Wohnung mit einer Eisenstange in der Hand empfangen. Daraufhin hätten diese auch zum Selbstschutz entsprechend zugegriffen.