Thüringische Landeszeitung (Jena)
Ein schlechtes Jahr für den Uhu
Forscher Martin Görner aus Jena fordert: Der Eulenvogel muss zurück auf die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Arten
JENA. Frau Görner ging am Morgen wieder arglos in den Garten. Dann blickte sie nach rechts.
Sie eilte ins Haus, stieß die Tür zur Stube auf, im Sessel saß ihr Mann, er sprach ins Telefon und schaute sie an.
Im Gartenschuppen ganz hinten, dicht an der Wand, da hocke ein Uhu und glotze sie an, rief sie dem Gatten entgegen. „Das war ein Erlebnis. Ich war natürlich erschrocken.“
Bist du sicher?, fragte Martin Görner und drehte seinen Hörer ein wenig vom Ohr.
Selbstverständlich, bemerkte Gattin Brigitte, sie habe schon einige Uhus bei ihm gesehen im Laufe der letzten Jahrzehnte.
Dieser Hinweis ließ Görner das Telefongespräch beenden. Immerhin hat der Artenschutzforscher aus Jena in den vergangenen 45 Jahren fast alle jungen Uhus in Thüringen beringt. Das sind mehr als 1200.
Aber noch nie hatte ein Uhu den führenden Uhu-Experten des Landes zu Hause aufgesucht. „Das erschien mir auch nicht sehr wahrscheinlich“, sagt Görner. Trotzdem ging er in den Garten, den er Stunden zuvor schon einmal inspiziert hatte, weil, was ungewöhnlich war, zehn bis 15 Krähen im Walnussbaum des Nachbarn wie von Sinnen schrien. „Ich habe noch gedacht, die krächzen, als wenn hier ein Uhu wäre“, erinnert sich Görner. Aber er entdeckte keinen Uhu im Baum. „Ich habe den Gedanken dann gleich wieder weggetan.“
Jetzt aber sah Görner den Vogel im Schuppen in der hintersten Ecke. „Völlig Uhu-untypisch“, sagt er. „Das zeigte sein großes Schutzbedürfnis.“Die größte Eule der Welt, die Bussarde und Rotmilane mit ihren drei Zentimeter langen Krallen durchbohrt und davonträgt, saß da verletzt und hatte Angst vor Krähen, die Uhus hassen.
Der tote Igel auf des Nachbarn Flachdach, über den sich Görner schon gewundert hatte, bekam plötzlich Sinn. „Der Uhu hat sich wahrscheinlich bei der Jagd auf den Igel in einem der Gärten verletzt und die Beute fallen lassen“, sagt Görner. „Aber das ist natürlich eine Vermutung.“
Wenn ein Uhu in den Gärten einer Stadt wie Jena Igel jagt, ist das kein gutes Zeichen. Es belegt, wie schlecht es um ihn steht. „Uhus finden in der offenen Landschaft in Thüringen kaum mehr etwas zu fressen.“Hamster und Kaninchen, einst ihre Leib- und Magenspeise, sind so gut wie verschwunden.
„In den vergangenen Jahrzehnten habe ich keinen Uhu in Thüringen mit Normalgewicht gewogen“, sagt Görner. Auch der 26 Jahre alte Kerl, der älteste Wild-Uhu Deutschlands, der vor zwei Jahren in Rudolstadt in einen Draht flog und starb, wog lächerliche 1100 Gramm – knapp zwei Kilo wären wohlgenährt gewesen.
Dem Uhu im Schuppen ging es nicht gut. Görner holte die Decke, „meine berühmte Decke“,
sagt er, die immer griffbereit liegt, und warf sie dem Vogel übers Haupt. So kann der Uhu zumindest nicht mehr mit dem Schnabel hacken. Gefährlich bleibt er trotzdem.
In einer ähnlichen Situation, schon länger her, war sich Görner zu sicher. Die Uhu-Kralle schoss durch seine Hand und hinten wieder raus. „Das war’s dann“, sagt Görner. „Der Uhu lässt nicht mehr los.“Ohne Hilfe, ohne Werkzeug ist man dann arm dran. Ein Uhu auf der Hand wird irgendwann auch lästig. Und mit der Zeit schwinden vor Schmerz die Sinne.
Eine halbe Stunde brauchte Görner seinerzeit, um sich zu befreien. „Ich hatte ein Loch in der Hand, durch das ich gucken konnte. Dann sagt man sich: So was passiert dir nicht wieder.“
Handschuhe? „Ich trage keine Handschuhe“, sagt Görner. „Sie implizieren eine Sicherheit, die es nicht gibt. Es gibt keinen Handschuh, durch den der Uhu nicht durchgreifen könnte.“
Das Schuppen-Tier, das sich als acht bis zehn Jahre altes UhuWeibchen erwies, transportierte der Forst-Ingenieur Görner nach Ranis in das Artenschutzzentrum der Arbeitsgruppe Artenschutz Thüringen, die er seit vielen Jahren leitet. Dort wurde der Vogel versorgt und gefüttert.
„Mit Küken, die alle paar Wochen tiefgefroren angeliefert werden“, sagt Görner. „In der Zeit in Ranis hat der Uhu für etwa 120 Euro Küken gefressen. Wir haben sie natürlich immer auftauen lassen.“ Gut bei Kräften war das Weibchen, als es in seinem Revier wieder freigelassen wurde. „Was der Uhu sofort wieder sieht, ist diese Landschaft. Die hat er verinnerlicht. Er erkennt sofort, wo er ist, und findet sich zurecht.“
Üppig Nahrung finden Uhus in Deutschland momentan nur noch in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. An der Küste gibt es Wiesen und Sandböden und da fühlen sich Kaninchen wohl. An Rhein und Ruhr in NRW sind Wanderratten stark vertreten. Also fressen Uhus dort sehr viele Ratten.
Sonst sieht es in Deutschland dürftig aus. Hauptursache für die schwindende Vitalität der Vögel sind die modernen Agrarstrukturen mit ihren Monokulturen. „Der starke Rückgang vieler Arten ist eindeutig mit der Intensivierung der Landwirtschaft zu erklären“, sagt Christoph Unger,
Vorsitzender des Vereins Thüringer Ornithologen.
Auf den Feldern steht das Korn meistens so dicht, dass sich in Bodennähe die Nässe hält und ein Mikroklima erzeugt, in dem viele Arten nicht leben können. Die Agrar-Förderpolitik der EU hat auch nach Ansicht des Naturschutzbunds BUND dazu geführt, dass heute fast jeder Quadratmeter intensiv beackert wird. Unbewirtschaftete Flächen, die für die Tiere überlebenswichtig sind, gibt es fast nicht mehr.
Brennt ein Wald, sieht man, was passiert. Tiere flüchten, und wer zu langsam ist, der stirbt. Dabei bedeutet die Mahd einer Wiese vermutlich ein noch größeres Unglück für Tiere – nur fällt das kaum auf. „80 Prozent der zoologischen Biomasse werden durch die Mahd vernichtet“, sagt Ornithologe Unger. Zoologische Biomasse? Insekten, Mäuse, junge Vögel, auch größere Tiere, die sich verstecken.
Dem Uhu kommt die Beute abhanden. Entsprechend größer muss sein Jagdrevier werden. Früher maß es in Thüringen zwölf Quadratkilometer, heute sind es 250 Quadratkilometer.
Trotzdem leben in Thüringen zurzeit mehr Uhus als jemals zuvor: 110 Brutpaare, dazu einzelne Vögel, insgesamt gut 300 Tiere.
1950 lebten in Thüringen 20. Im Jahr 2015 hockten sogar 75 junge Uhus in den Horsten. Thüringen-Rekord!
Aber auf die Hoffnung folgten drei schlechte Jahre. Das UhuJahr 2018 ist sogar zum Gruseln. Thüringens Uhus brachten nur
14 Jungvögel zur Welt. „Davon leben jetzt noch zehn“, sagt Görner. Der Forscher fordert: „Der Uhu muss zurück auf die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Arten.“
Die Zahlen, die Görner seit 1973 wissenschaftlich erhebt, sprechen für sich: Jedes Jahr sterben in Thüringen im Durchschnitt 30 Uhus, 15 wachsen nach. Setzt sich das so fort, wird es nach Görners Langzeitprognose im Jahr 2050 nur noch 20 Uhus geben – so viele wie 1950.
„Der Uhu“, sagt Görner, „erlebt die Veränderungen schneller als der Mensch. Anhand des Uhus lässt sich nachweisen, dass es der Natur noch schlechter geht, als man denkt.“
Die Mahd einer Wiese tötet 80 Prozent der Tiere
Eine internationale Naturschutztagung unter dem Motto „Zoologischer und botanischer Artenschutz in Mitteleuropa“findet vom . bis . Oktober in der Thüringer Landessportschule in Bad Blankenburg statt. Veranstalter ist die Arbeitsgruppe Artenschutz Thüringen. Das Vortragsprogramm sowie weiterführende Informationen sind unter www.ag-artenschutz.de zu finden. Anmeldungen sind kurzfristig möglich über ag-artenschutz@freenet.de oder telefonisch: /