Thüringische Landeszeitung (Jena)
„Ich bin gespannt, ob der Kaiser noch gestürzt wird“
Frankreich, irgendwo an der Westfront im Oktober 1918: Der einstige Student Siegfried Müller sitzt im Schützengraben auf einer Holzkiste. In einer Gefechtspause nimmt er Papier und Stift aus seinem Rock, um seinem verehrten Herrn Professor Cartellieri einen Brief nach Jena zu schrieben. Kalt ist dieser Herbstmorgen, der kommende Winter wirft schon seine Schatten voraus. Ungewiss ist die Zukunft, ungewisser noch der Ausgang des Krieges. Oder sollte er sich täuschen?
Gewiss, seit den letzten Monaten sieht es nicht mehr so gut aus für die deutschen Truppen. Nach den Erfolgen, die man noch im März in der „Großen Schlacht in Frankreich“errungen hatte, geht es irgendwie nur noch bergab. Klar, zunächst wurden Franzosen und Briten eiskalt überrumpelt. Aber mittlerweile haben die sich von ihrem Schock erholt. „Vor allem diese verdammten Tanks machen uns jetzt die Hölle heiß“, denkt Müller bei sich. Gegen sie sind die Deutschen meist chancenlos.
Das zeigte sich dann am 8. August 1918. Das ist der „schwarze Tag des deutschen Heeres“, als man bei Amiens knapp 50.000 Mann und gut 500 Geschütze verlor, weil Briten und Franzosen mit einem massiven Panzeraufgebot die deutschen Linien überrollten. Und dann sind da auch noch die Amerikaner, die scheinbar nun in Scharen an die Front kommen. Über eine halbe Million von ihnen hat bei Staint-Mihiel, nahe Verdun, Mitte September zusammen mit den Franzosen die deutsche Front um 20 Kilometer eingedrückt. Aber, die Front hält stand, noch jedenfalls.
Schließlich hat nun auch noch vor ein paar Tagen, am 14. Oktober, der amerikanische Präsident Wilson die „Demokratisierung Deutschlands“gefordert. Vorher gibt es keinen Frieden! „Hochverehrter Herr Geheimrat!“, beginnt Müller zu schreiben. „Unsere Zugeständnisse haben die Grenze bereits überschritten, die man noch als ehrenvoll bezeichnen kann.
Aber was niemand sagt, weiß oder ahnt jeder“, schreibt Müller weiter, „zwingende Notwendigkeit muß vorliegen.“
Ein Frieden ja, aber doch wohl kaum unter diesen Bedingungen. Wenn der Kaiser abdanken müsste, kaum auszudenken, was dann mit Deutschland passiert. Müller kratzt sich mit dem Stift am Kopf und denkt dabei: „Verzwickte Lage!“Er notiert weiter: „Bei den militärischen Stellen liegt die Entscheidung darüber, ob wir imstande sind, im kommenden Frühjahr den Ansturm auszuhalten. Reicht das Material? Reichen die Truppen? Ist Verlaß auf sie?“
Noch ist die Stimmung unter Müllers Kameraden gut. Aber es stellt sich schon die Frage: „Ist es nicht besser, daß ein Mann weiche, ehe das ganze Volk verderbe?“Aber was passiert dann? Gibt es Sicherheiten für einen gerechten Frieden, wenn Wilhelm II. den Thron räumt? Wohl kaum: „Tatsächlich müssen wir uns nach vier Jahren Krieg . . . dem anmaßenden Feinde auf Gnade und Ungnade ausliefern. Rechtsfrieden!“
So wie Siegfried Müller denken in diesen Tagen noch viele andere Deutsche, die in den Schützengräben an der Westfront liegen. Müller schließt daher seinen Brief: „Wir müssen den Tatsachen ins Gesicht sehen. Und wir tun’s auch. Und darin liegt der Trost und die Zuversicht, daß wir das gegenwärtige Schicksal mutig auf uns nehmen und tapfer auf ein besseres hinarbeiten.“
Aber die Moral beginnt zu schwinden. Die militärische Führung hat auch keinen Plan B und verdrängt die drohende Niederlage, so gut es geht. In der Heimat bekommt man davon wenig mit. Erst als es nichts mehr zu vertuschen gibt, wird Kaiser Wilhelm II., der seit Beginn des Krieges kaum eine Rolle in der militärischen Führung Deutschlands spielt, darüber informiert. Das deutsche Heer ist im Rückzug begriffen. Ende Oktober 1918 überschlagen sich die Ereignisse: Zuerst wird General Ludendorff von seinem Posten enthoben, dann ersuchen die Verbündeten des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich, die Alliierten um einen Sonderfrieden. Schließlich kommt es zu ersten Meutereien von Matrosen in Wilhelmshaven. Die Männer an der Front ahnen, dass die Tage nun turbulent werden. Am 4. November 1918 schreibt der Landsturmmann Ludwig Sckell seiner Schwester nach Weimar einen Brief und nimmt damit die Ereignisse voraus, die bald folgen: „Ich bin gespannt, ob der Kaiser noch gestürzt werden wird. […] Hoffentlich wird es dieses Jahr zu einem Friedensweihnachten werden.“