Thüringische Landeszeitung (Jena)
Die Achtundsechziger
Neun – neun – sieben. Das ist in großen Lettern eine Schlagzeile des Sportechos in diesen Tagen vor 50 Jahren. Die Chiffre steht für die gewonnenen Medaillen der DDR bei den Sommerspielen von Mexiko. Gemessen an den olympischen Orgien der Achtzigerjahre eine bescheidene Ausbeute. Mir, dem damals 12 Jahre alten Sportinteressierten, erscheint sie dennoch außerordentlich.
Zum ersten Mal treten die deutschen Staaten mit getrennten Mannschaften an, als Deutschland Ost und West, mit den olympischen Ringen in der schwarz-rot-goldenen Fahne und Beethovens Neunter als Siegerhymne.
Die Zahl der Olympiasieger bleibt überschaubar. Dafür umso einprägsamer. Der Erfurter Roland Matthes beginnt seinen unvergleichlichen Siegeszug im Schwimmbecken mit Gold über 100 und 200 Meter Rücken. Margitta Gummel stößt als erste Frau die Kugel über 19 Meter und darf ihre Weltrekordweite von 19,61 Metern fortan auf dem Autokennzeichen durch die Gegend chauffieren. Per Taschenradio lausche ich in der Nacht der Übertragung vom Boxfinale im Weltergewicht, in dem Manfred Wolke, der spätere Trainer von Henry Maske, den Kameruner Joseph Bessala besiegt. In jenem Ring, in dem nach ihm ein gewisser George Foreman ebenfalls Gold holt. Und es gibt den irren Dreikampf der Stabhochspringer, die alle 5,40 Meter überqueren. Bob Seagren aus den USA gewinnt dank der geringsten Zahl an Versuchen vor dem Westdeutschen Claus Schiprowski und Wolfgang Nordwig aus Jena.
Doch Mexiko ist mehr als der Beginn des Wettstreits zwischen Ost und West. Es sind die ersten Spiele in Lateinamerika. Die ersten, bei denen auf Tartan gelaufen wird. Die ersten, bei denen es Dopingkontrollen gibt. Erwischt wird nur ein Moderner Fünfkämpfer aus Schweden. Sein Vergehen: Alkoholkonsum vor dem Schießen.
Mexiko, das waren auch die ersten Spiele in extremer Höhe von über 2200 Metern. Ärzte warnen vor Toten in den Ausdauerdisziplinen – stattdessen hagelt es 31 Weltrekorde. Axel Eger ist Sportredakteur dieser Zeitung
Am fassungslosesten hat alle Bob Beamon gemacht. Den Sprung des damals 22 Jahre alten Amerikaners auf 8,90 Meter will man immer und immer wieder anschauen. Zu begreifen ist er nicht. Eine vorweggenommene Mondlandung. „Wo die anderen gelandet sind, hat er die Beine hochgenommen und flog noch mal weiter“, erinnert sich Stabhochspringer Claus Schiprowski in der FAZ. Beamon, dessen Weltrekord 23 Jahre Bestand hat, ehe 1991 Mike Powell 8,95 Meter springt, hat später keinen einzigen großen Wettkampf mehr hinbekommen. Sein Jahrhundertsprung hat ihn erdrückt.
Auch die Sprinter sorgen für monumentale Bestmarken. US-Boy Lee Evans jagt die Stadionrunde in 43,86 Sekunden herunter, bis 1988 kommt da keiner ran. Noch länger hält die Fabelzeit der amerikanischen 4x400-Meter-Staffel, deren unglaubliche 2:56,1 Minuten erst 1992 fallen.
Meine Helden von Mexiko aber heißen Tommie Smith und John Carlos. Ihr mutiger Protest bei der Siegerehrung des 200-Meter-Laufs im Estadio Olimpico gehört zu den einprägsamsten Bildern der Sportgeschichte. Ohne Schuhe, nur in Socken als Symbol der Armut, stehen sie auf dem Podest, den Kopf gesenkt und eine Faust im schwarzen Handschuh zum BlackPower-Gruß nach oben gereckt.
Es ist die Zeit der Unruhen in Amerika, des offenen Rassismus, der Diskriminierung der schwarzen Minderheit. Der Vietnamkrieg tobt, Muhammad Ali muss wegen Kriegsdienstverweigerung seinen WM-Titel zurückgeben. Ein halbes Jahr vor den Spielen wird Martin Luther King ermordet. „Wir waren alarmiert“, sagt Carlos.
Smith, er gewinnt in der ersten elektronisch erfassten Weltrekordzeit von 19,83 Sekunden, und sein drittplatzierter Gefährte müssen zwei Tage später auf Anweisung von IOC-Präsident Avery Brundage das Olympische Dorf verlassen. Sind Sie stolz, ein Amerikaner zu sein?, wird Smith gefragt. Ich bin stolz, ein schwarzer Amerikaner zu sein, antwortet er.
Heute sind beide rehabilitiert. Auf dem Campus der Universität von San Jose steht ein Denkmal, Barack Obama lädt sie ins Weiße Haus ein. Anfang des Jahres hat Smith den Dresdner Friedenspreis erhalten – „für eine der beeindruckendsten öffentlichen Demonstrationen gegen Rassendiskriminierung im letzten Jahrhundert.“
Mexiko ist aber nicht nur der Triumph von Smith und Carlos, die Spiele erleben den Siegeszug der schwarzen Sportler schlechthin. Im 100-m-Finale steht kein weißer Läufer. Über 5000 und 10.000 Meter gehen alle Medaillen nach Afrika. Und noch einen Sieg feiert der Kontinent. Die jungen afrikanischen Staaten zwingen mit ihrer Boykottdrohung die Apartheid in die Knie. Das IOC entzieht Südafrika die olympische Bühne. Erst 1992, nach Ende der Rassentrennung, darf das Land wieder dabei sein.
Zu den Stars meiner damals gut behüteten Sprengel-Olympiabildersammlung gehört natürlich auch Dick Fosbury. „Sieh dir das an, der ist verrückt“, ruft mein Vater. Ich renne vor den Fernseher und sehe den Amerikaner rückwärts über die Hochsprunglatte segeln. Wer soll das begreifen? Der Olympiasieger versteht sich selbst nicht. Bisweilen gucke er sich das auf Film an, um zu sehen, wie er es hinkriegt: „Ich springe mit rechts ab, drehe den Rücken zur Latte, drücke ihn drüber, klappe die Beine hoch.“
Seitdem hat sein Stil, der FosburyFlop, den Sport revolutioniert. Keiner springt mehr anders. Fosbury schafft das schier Unmögliche: Er landet einen Flop, der zum Hit wird.