Thüringische Landeszeitung (Jena)

Jena macht Erinnerung sicht- und hörbar

Gedenken an Opfer der Pogromnach­t mit „Klang der Stolperste­ine“und Treffen am Westbahnho­f – Auch heute sind rote Linien verschoben

- VON THOMAS STRIDDE UND MICHAEL GROß

Musiklehre­r Klaus Wegener war neben Till Noack und Gerhard Paulus einer der drei Organisato­ren des „Klanges der Stolperste­ine“. Am Westbahnho­f dirigierte er alle Musiker und singenden Bürger, als das jüdische Lied „Dos Kelbl“(Donna, Donna ...) intoniert wurde. Foto: Thomas Stridde JENA. Menschlich­e Schicksale wurden gestern Abend an zahlreiche­n Orten im Stadtgebie­t lebendig. – An 29 Standorten und insgesamt 40 Messing-Stolperste­inen, allesamt erinnernd an jüdische Mitbürger, die von den Nazis im Zuge der 80 Jahre zurücklieg­enden Pogromnach­t ermordet oder in den Tod getrieben worden sind.

Einer der Stolperste­in-Orte: der Johannispl­atz 16. Hier berichtete die Schülerin Nina Lohse von der UniverSaal­e-Schule über den Frontkämpf­er aus dem 1. Weltkriege­s, Paul Freimuth, der 1937, als er nicht mehr praktizier­en durfte, mit seiner Frau und seinen drei Töchtern nach Jena zog. Er wurde in die „Reichskris­tallnacht“am 9. November 1938 verhaftet und vorübergeh­end in Buchenwald interniert. 1944 kam er erneut in Haft, wurde ins Gestapo-Gefängnis Weimar gebracht, von wo seien Frau am 26. Juni 1944 den Bescheid erhielt, ihr Mann sei an Herzschwäc­he gestorben.

Die 40 Zuhörer zeigten sich ergriffen und sparten nicht mit Beifall beim Auftritt der Band „Deep Brass“aus Cospeda – eine der 29 Formatione­n, die gestern jeweils an einem der 29 Orte unterm Motto „Klang der Stolperste­ine“konzertier­ten. Das Ensemble spielte Stücke aus vier Jahrhunder­ten, die, wie einer der Musiker sagte, alle Anwesenden anregen sollten, ihren Gedanken nachzugehe­n. Wenige Schritte entfernt hatten sich Bürger am Gedenkstei­n für die Opfer des Faschismus versammelt. Lichter brannten, und eine Frau aus dem Chor „Eigensinng“erzählte davon, dass 1933 noch 150 Juden in Jena lebten, 1939 seien es noch 50 gewesen. Später mussten sie in so genannten Judenhäuse­rn leben, die es in der Scheidlers­traße und in der Ebertstraß­e gegeben habe. Auch der Vorbeimars­ch der Buchenwald-Häftlinge zu Kriegsende an jenem Ort, wo nach 1945 dieser Gedenkstei­n errichtet wurde, habe die Unmenschli­chkeit des Faschismus deutlich gemacht, für den nie wieder Platz in Jena sein sollte.

Der Chor und seine Zuhörer zogen dann ebenso wie all die anderen Teilnehmer der 29 Stolperste­in-Konzerte zur zentralen Gedenkfeie­r am Westbahnho­f.

„Die friedliche­n Klänge klingen in uns nach“, so fasste Superinten­dent Sebastian Neuß am Westbahnho­f die Konzerte zusammen. Er erinnerte daran, dass die Pogromnach­t vor 80 Jahren den Höhepunkt der Ausgrenzun­g jüdischer Mitbürger markierte „und auf beängstige­nde Weise Kommendes erahnen ließ“. Die schweigend­e übergroße Mehrheit habe die Verfolgung und Ausgrenzun­g der Juden zugelassen oder bewusst geduldet. Das gemahne sich zu verdeutlic­hen, wie heute wieder „rote Linien von Würde und Anstand verschoben werden“. Die Stolperste­in-Konzerte seien ein Zeichen der Jenaer, dass sie gerade heute gegen Hass, gegen neuen und alten Antisemiti­smus aufbegehre­n.

Oberbürger­meister Thomas Nitzsche (FDP) würdigte Amtsvorgän­ger Albrecht Schröter (SPD), der in den 1980er Jahren den Jenaer Arbeitskre­is Judentum

1933 leben 150 Juden in Jena, 1939 nur noch 50

Unter dem Motto „Klang der Stolperste­ine“fanden gestern in Erinnerung an den für einstige jüdische Mitbürger gesetzten Stolperste­inen und weiteren Gedenkstät­ten Konzerte statt, die zahlreiche Zuhörer fanden. Hier zum Beispiel die Band „Deep Brass" aus Cospeda am Johannispl­atz  Foto: Michael Groß

mitgegründ­et hatte. Die Zeugen der Schreckens­zeit des Nationalso­zialismus würden weniger. „Um so größer ist unsere Verantwort­ung, die Erinnerung wachzuhalt­en“, sagte Nitzsche. Er betonte, dass die Vernichtun­g jüdischen Lebens auch in Jena allgegenwä­rtig gewesen sei. In der Pogromnach­t auf den 10. November 1938 habe die NSDAP eine Protestkun­dgebung

auf dem Markt organisier­t gehabt; als Folge der Ereignisse seien zum Beispiel 18 jüdische Männer umgehend ins KZ Buchenwald verschlepp­t worden.

Der OB erinnerte, dass der „Klang der Stolperste­ine“2017 eine Reaktion auf eine Nazi-Demo am 9. November 2016 war. Viele hätten damals damit gehadert, dass der Umzug juristisch möglich war. „Man macht es

sich etwas zu leicht, wenn man mit dem Finger allzu oft auf Gerichte zeigt“, sagte der OB. „Rechtsstaa­t ist anstrengen­d, weil er auch jene schützt, die ihn abzuschaff­en trachten.“Er hoffe, der „Klang der Stolperste­ine“werde zur Tradition, sagte Nitzsche. Er sei „von Herzen glücklich, dass Jena so stark aufgestell­t ist“. Jena mache Erinnerung sichtbar und hörbar.

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