Thüringische Landeszeitung (Jena)
Jena macht Erinnerung sicht- und hörbar
Gedenken an Opfer der Pogromnacht mit „Klang der Stolpersteine“und Treffen am Westbahnhof – Auch heute sind rote Linien verschoben
Musiklehrer Klaus Wegener war neben Till Noack und Gerhard Paulus einer der drei Organisatoren des „Klanges der Stolpersteine“. Am Westbahnhof dirigierte er alle Musiker und singenden Bürger, als das jüdische Lied „Dos Kelbl“(Donna, Donna ...) intoniert wurde. Foto: Thomas Stridde JENA. Menschliche Schicksale wurden gestern Abend an zahlreichen Orten im Stadtgebiet lebendig. – An 29 Standorten und insgesamt 40 Messing-Stolpersteinen, allesamt erinnernd an jüdische Mitbürger, die von den Nazis im Zuge der 80 Jahre zurückliegenden Pogromnacht ermordet oder in den Tod getrieben worden sind.
Einer der Stolperstein-Orte: der Johannisplatz 16. Hier berichtete die Schülerin Nina Lohse von der UniverSaale-Schule über den Frontkämpfer aus dem 1. Weltkrieges, Paul Freimuth, der 1937, als er nicht mehr praktizieren durfte, mit seiner Frau und seinen drei Töchtern nach Jena zog. Er wurde in die „Reichskristallnacht“am 9. November 1938 verhaftet und vorübergehend in Buchenwald interniert. 1944 kam er erneut in Haft, wurde ins Gestapo-Gefängnis Weimar gebracht, von wo seien Frau am 26. Juni 1944 den Bescheid erhielt, ihr Mann sei an Herzschwäche gestorben.
Die 40 Zuhörer zeigten sich ergriffen und sparten nicht mit Beifall beim Auftritt der Band „Deep Brass“aus Cospeda – eine der 29 Formationen, die gestern jeweils an einem der 29 Orte unterm Motto „Klang der Stolpersteine“konzertierten. Das Ensemble spielte Stücke aus vier Jahrhunderten, die, wie einer der Musiker sagte, alle Anwesenden anregen sollten, ihren Gedanken nachzugehen. Wenige Schritte entfernt hatten sich Bürger am Gedenkstein für die Opfer des Faschismus versammelt. Lichter brannten, und eine Frau aus dem Chor „Eigensinng“erzählte davon, dass 1933 noch 150 Juden in Jena lebten, 1939 seien es noch 50 gewesen. Später mussten sie in so genannten Judenhäusern leben, die es in der Scheidlerstraße und in der Ebertstraße gegeben habe. Auch der Vorbeimarsch der Buchenwald-Häftlinge zu Kriegsende an jenem Ort, wo nach 1945 dieser Gedenkstein errichtet wurde, habe die Unmenschlichkeit des Faschismus deutlich gemacht, für den nie wieder Platz in Jena sein sollte.
Der Chor und seine Zuhörer zogen dann ebenso wie all die anderen Teilnehmer der 29 Stolperstein-Konzerte zur zentralen Gedenkfeier am Westbahnhof.
„Die friedlichen Klänge klingen in uns nach“, so fasste Superintendent Sebastian Neuß am Westbahnhof die Konzerte zusammen. Er erinnerte daran, dass die Pogromnacht vor 80 Jahren den Höhepunkt der Ausgrenzung jüdischer Mitbürger markierte „und auf beängstigende Weise Kommendes erahnen ließ“. Die schweigende übergroße Mehrheit habe die Verfolgung und Ausgrenzung der Juden zugelassen oder bewusst geduldet. Das gemahne sich zu verdeutlichen, wie heute wieder „rote Linien von Würde und Anstand verschoben werden“. Die Stolperstein-Konzerte seien ein Zeichen der Jenaer, dass sie gerade heute gegen Hass, gegen neuen und alten Antisemitismus aufbegehren.
Oberbürgermeister Thomas Nitzsche (FDP) würdigte Amtsvorgänger Albrecht Schröter (SPD), der in den 1980er Jahren den Jenaer Arbeitskreis Judentum
1933 leben 150 Juden in Jena, 1939 nur noch 50
Unter dem Motto „Klang der Stolpersteine“fanden gestern in Erinnerung an den für einstige jüdische Mitbürger gesetzten Stolpersteinen und weiteren Gedenkstätten Konzerte statt, die zahlreiche Zuhörer fanden. Hier zum Beispiel die Band „Deep Brass" aus Cospeda am Johannisplatz Foto: Michael Groß
mitgegründet hatte. Die Zeugen der Schreckenszeit des Nationalsozialismus würden weniger. „Um so größer ist unsere Verantwortung, die Erinnerung wachzuhalten“, sagte Nitzsche. Er betonte, dass die Vernichtung jüdischen Lebens auch in Jena allgegenwärtig gewesen sei. In der Pogromnacht auf den 10. November 1938 habe die NSDAP eine Protestkundgebung
auf dem Markt organisiert gehabt; als Folge der Ereignisse seien zum Beispiel 18 jüdische Männer umgehend ins KZ Buchenwald verschleppt worden.
Der OB erinnerte, dass der „Klang der Stolpersteine“2017 eine Reaktion auf eine Nazi-Demo am 9. November 2016 war. Viele hätten damals damit gehadert, dass der Umzug juristisch möglich war. „Man macht es
sich etwas zu leicht, wenn man mit dem Finger allzu oft auf Gerichte zeigt“, sagte der OB. „Rechtsstaat ist anstrengend, weil er auch jene schützt, die ihn abzuschaffen trachten.“Er hoffe, der „Klang der Stolpersteine“werde zur Tradition, sagte Nitzsche. Er sei „von Herzen glücklich, dass Jena so stark aufgestellt ist“. Jena mache Erinnerung sichtbar und hörbar.