Thüringische Landeszeitung (Jena)

Thüringens Aufbru

Die Novemberre­volution begann zwar nicht in Thüringen, dafür aber auf der „Thüringen“. Die Matrosen und Heizer des gleichnami­gen Kriegsschi­ffs waren die ersten, die vor 100 Jahren meuterten.

- Von Mirko Krüger

Die Pistole auf der Brust. Ein sozialdemo­kratisches Ultimatum. Ausrufung der Republik in Bayern. Kämpfe vor den neuen Stellungen.

Am 9. November 1918 strotzt die Eisenacher Zeitung geradezu vor dramatisch klingenden Schlagzeil­en. Deutschlan­d ist in Aufruhr. Es sind nur noch wenige Stunden, bis der Kaiser abdanken wird. Anderersei­ts erfahren die Eisenacher an diesem Samstag mit keiner Silbe davon, dass die Revolution längst auch ihr eigenes Großherzog­tum ereilt hat.

Am Vorabend hatten sich in Weimar, in der Residenzst­adt von „Sachsen-Weimar und Eisenach“, zahlreiche Arbeiter und Soldaten vorm Schloss versammelt. Sie besetzten den Bahnhof und die Post, sie kontrollie­rten die Polizeiwac­he und die Zeitungsre­daktion. Ein eiligst gegründete­r Soldatenra­t stellte die Militärbeh­örde unter Aufsicht und entließ alle Arrestante­n aus dem Garnisonsg­efängnis.

Ganz so, als sei die Welt in bester Ordnung, stimmen an jenem 9. November allerlei Eisenacher Lokale auf ein geselliges Wochenende ein. Das Tivoli kündigt per Annonce die „berühmte Verwandlun­gstänzerin Kitty Allan“an. Das Stadttheat­er lädt zu Schillers „Don Carlos“ein und in der „Erholung“soll die Kapelle des Gothaer Infanterie­regiments aufspielen…

Die Weimarer haben derweil eine lange, aufrühreri­sche Nacht und einen ebenso turbulente­n Vormittag hinter sich. Schließlic­h, gegen Mittag, lässt sich Großherzog Wilhelm Ernst auf Verhandlun­gen ein. An deren Ende erklärt er schriftlic­h: „Dem mir von der Vertretung der Soldaten und Arbeiter wie der Bürger in Weimar aufs ausdrückli­chste ausgesproc­henem Verlangen, für mich und meine Familie auf den Thron zu verzichten, um den drohenden Bürgerkrie­g zu vermeiden, leiste ich Folge und erkläre hiermit, dass ich für mich und meine Familie für alle Zeit auf den Thron und die Thronfolge im bisherigen Großherzog­tum Sachsen-Weimar-Eisenach verzichte.“

Das Originaldo­kument dieser Abdankung gilt als verscholle­n. Erhalten blieb ein handschrif­tlicher Entwurf. Auf diesem von den Revolution­ären vorformuli­erten Blatt hatte der Großherzog noch durchgestr­ichen, dass auch die „Bürger in Weimar“seinen Rücktritt gefordert hatten.

Akzeptiert­en die Aufständis­chen diese Kürzung? Oder setzten sie doch ihren ursprüngli­chen Text durch? Zumindest in damaligen Zeitungen findet sich der vollständi­ge Text wieder.

Bisher trug Wilhelm Ernst den Adelstitel „Seine Königliche Hoheit, Wilhelm Ernst, von Gottes Gnaden Großherzog zu Sachsen, Landgraf in Thüringen, Markgraf zu Meissen, gefürstete­r Graf zu Henneberg, Herr zu Blankenhay­n, Neustadt und Tautenburg“. Nun ist er der erste Thüringer Regent, der abdankt. Binnen drei Wochen werden ihm die Herrscher der sieben anderen Fürstentüm­er folgen. Damit endet in Thüringen nicht nur das Zeitalter der Monarchien; damit wird zugleich das Ende einer Jahrhunder­te währenden Kleinstaat­erei vorbereite­t.

Thüringen besteht 1918 nicht einfach nur aus acht Herzogtüme­rn. Thüringen gleicht vielmehr einem kunterbunt­en Flickentep­pich. Die jeweiligen Herrschaft­sgebiete sind keineswegs in sich geschlosse­ne Territorie­n, sondern regelrecht zerstückel­t. Es gibt eine Vielzahl an Exklaven; wer sie vom Hauptgebie­t aus erreichen möchte, muss fremdes Gebiet passieren.

So führt der Weg von Eisenach nach Weimar durch SachsenGot­ha und die preußische­n Regierungs­bezirk Sachsen. Und wenn die Altenburge­r ihre sich südöstlich von Jena erstrecken­den Gebiete erreichen wollten, haben sie zuvor das Fürstentum Reuß zu durchfahre­n – oder aber wahlweise preußische Gebiete bzw. eine Weimarer Exklave.

Die Ursachen dieser Zerrissenh­eit liegen im Mittelalte­r. Sie ist vor allem Ausdruck einer auf Ausgleich bedachten Erbpolitik der Fürstenhäu­ser. Nach dem Tod eines Regenten ging die Herrschaft oft nicht an einen einzigen Thronfolge­r über. Vielmehr wurden die Besitztüme­r unter den männlichen Erben aufgeteilt. Als etwa der legendäre Gothaer Herzog Ernst der Fromme starb, erhielt jeder seiner sieben Söhne ein eigenes Herrschaft­sgebiet.

Zwar wurden solche Regelungen teils rückgängig gemacht, mitunter starben auch Linien aus, so dass Gebiete wieder zusammenge­legt werden konnten, schließlic­h änderte sich auch das Erbprinzip. Dennoch zeugt die Landkarte des Jahres 1918 von einer ausgesproc­henen Kleinstaat­erei und damit einhergehe­nd von einer politisch eher kleinen Bedeutsamk­eit der Herzogtüme­r.

War es um deren wahre Macht nicht sonderlich bestellt, so bescherte anderersei­ts die Konkurrenz­situation zwischen den adeligen Herrscherf­amilien dem Land Thüringen eine kulturelle Blüte ohnegleich­en. Weimar ging mit der Klassik und dem silbernen Zeitalter in die Weltkultur ein. In Meiningen erfand der Theaterher­zog das moderne Theater. Schließlic­h liegen auch die Wurzeln des Bauhauses und damit der modernen Architektu­r in Thüringen.

Goethe wusste diese Situation durchaus mit Witz zu nehmen: „Weimar hat, wie man scherzhaft sagt, zehntausen­d Poeten und einige Einwohner.“Tatsächlic­h wimmelt es in diesem Thüringer Universum vor lauter großen Namen: Goethe und Schiller gehören natürlich dazu, aber nicht minder Bach und Schütz, Liszt und Brahms, Nietzsche und van de Velde...

Vor allem aber verfügt das noch immer kleine Thüringen dank der einstigen Kleinstaat­erei über eine einmalige Denkmallan­dschaft. Eine solche Fülle an Burgen und Schlössern, an Theatern und Museen gibt es in Deutschlan­d kein zweites Mal. Dieses kulturelle Erbe der einstigen Fürstenhäu­ser ist bis heute identitäts­stiftend für Thüringen und viele seiner Bürger.

Apropos Land. Bis zur Gründung des Freistaats Thüringen sollten vom Tag der Novemberre­volution, dem 9. November 1918, noch anderthalb aufregende Jahre vergehen.

 ?? FOTO: HO ?? Die „SMS Thüringen“war ein Schlachtsc­hiff der kaiserlich­en Marine. Im Oktober 1918 meuterte seine Besatzung. Zwei Jahre später ging das Schiff als Reparation an Frankreich. Das Foto entstammt einer zeitgenöss­ischen Postkarte.
FOTO: HO Die „SMS Thüringen“war ein Schlachtsc­hiff der kaiserlich­en Marine. Im Oktober 1918 meuterte seine Besatzung. Zwei Jahre später ging das Schiff als Reparation an Frankreich. Das Foto entstammt einer zeitgenöss­ischen Postkarte.
 ??  ??
 ?? REPROS: MIRKO KRÜGER ?? Überschrif­ten aus Thüringer Zeitungen im November 1918.
REPROS: MIRKO KRÜGER Überschrif­ten aus Thüringer Zeitungen im November 1918.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany