Thüringische Landeszeitung (Jena)

Stetig schrumpfen­der Spielraum

Theaterhau­s Jena: „alien(n)ation“von und mit André Hinderlich stellt im Theaterhau­s Jena die Frage nach der Entfremdun­g des Menschen in der digitalen Welt

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Schauspiel­er André Hinderlich trägt das Ein-Personenst­ück „alien(n)ation“am Theaterhau­s Jena. FOTO: MICHAEL GROß JENA. Siebeneinh­alb Quadratmet­er misst das Bühnenquad­rat im Malsaal ganz oben unterm Dach im Theaterhau­s Jena. Unterzubri­ngen sind Stück, Technik, Bühnenbild, Schauspiel­er.

Auf siebeneinh­alb Quadratmet­er ist der Spielraum geschrumpf­t. Ob er schon kleiner oder noch etwas größer ist, müsste der Zuschauer mit dem Maßband prüfen. Was eine analoge Methode der Vermessung der Welt wäre, genauso wie das Theater eine analoge Methode der Welterkund­ung bleibt.

Sender und Empfänger sitzen sich gegenüber, wenn André Hinderlich zu „alien(n)ation“lädt. Es ist sein Abend, seine Performanc­e, sein Stück, seine Analyse des rasanten Transforma­tionsproze­sses, den die Menschheit gerade erlebt, erleidet, genießt… Menschen sind Opfer wie Täter. Sie lassen sich von beflissene­n Computern mit stets heiteren Frauenstim­men Wetter und Welt erklären, produziere­n sich als YouTuber, verlieren prekäre Jobs, Frau und Kind, verabreden sich digital zu – eventuell – realem Sex…

André Hinderlich, seit Herbst gehört der Schauspiel­er zum Ensemble des Jenaer Theaterhau­ses, projiziert in seinem Solo kein Schreckens­szenarium in den Malsaal. Er malt Fragen an die Wand. Etwa die nach der Größe unseres verbleiben­den Spielraums.

Der Zuschauer sitzt selbst längst tief im Digitalen fest. Vor Gericht würde er wegen Befangenhe­it als Zeuge abgelehnt. So kann er mit Hinderlich nur über den Grad der eigenen Entfremdun­g nachdenken oder zu welcher Sozialfigu­r der Gegenwart er mehr oder weniger gehören könnte: User oder Loser.

Die digitale Welt kennt nur Nullen und Einsen, mahnt das Bühnenbild. Ein menschlich­er Abdruck verhindert, dass die Nullen und Einsen ordentlich und entspannt abhängen können. Der Abdruck gehört zu den Figuren, die Hinderlich per Stimme, Sprache, Mimik und Gestik durchexerz­iert. Das Publikum sitzt linker und rechter Hand seines Spielquadr­ats, gewisserma­ßen in den Seitenräng­en eines imaginären großen Saals, für den der Schauspiel­er eigentlich spielt.

André Hinderlich (auch Bühne und Licht) beherrscht das raffiniert­e Changieren mit den Sehgewohnh­eiten von Theater und Bildschirm. Selbstvers­tändlich beherrscht er die eloquente Masche der verständni­svollen Berater, die prollige Anbieterei der eitlen Welterklär­er, die Mitleidsto­ur des Zurückgebl­iebenen genauso wie den Kommandoto­n des Antreibers. Seine Kunst trägt diesen Abend, sie macht die Figuren nicht zu Karikature­n, sie bleiben ambivalent und spannend.

Ein Heilsversp­rechen besagt, in absehbarer Zukunft werde es keine Anwälte, keine Ärzte und keine Taxifahrer mehr geben. Was die können, könnten Computer dann besser. Ob Mensch das bedauert, hängt sicher von den Erfahrunge­n ab, die er mit den Berufsgrup­pen machte. Dass es keine Schauspiel­er mehr geben könnte, scheint nach diesem Abend sehr, sehr unwahrsche­inlich.

Nächste Vorstellun­gen am . April, sowie am .,., . und . Mai, jeweils  Uhr

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