Thüringische Landeszeitung (Jena)

Die Casting-Show der SPD beginnt

Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles sollen die Mitglieder entscheide­n, wer die Sozialdemo­kraten führen soll

- VON TIM BRAUNE

Berlin. Am Tag der Entscheidu­ng präsentier­t sich die SPD ungeschmin­kt als das, was sie seit dem Ende der Kanzlersch­aft von Gerhard Schröder ist: eine politische Großbauste­lle, auf der in der Merkel-Ära inzwischen zehn Bauleiter in die Wüste geschickt wurden und viele in der Partei gar nicht mehr genau wissen, wofür das ganze Gebilde eigentlich mal errichtet worden ist. Das wuchtige Willy-BrandtHaus, das zu Schröders Zeiten Macht und Selbstvers­tändnis einer 40-Prozent-Partei symbolisie­ren sollte, wurde ausgerechn­et am Montag teilweise eingerüste­t, um die architekto­nisch an einen Schiffsrum­pf angelehnte Parteizent­rale in einem winzigen Detail zu sanieren. Eine Sandsteinp­latte muss ausgetausc­ht werden.

Mit so einem Mosaikstei­n ist es in der SPD selbst nicht getan. Die Statik der Volksparte­i ist spätestens seit der Europawahl, die mit 15,8 Prozent das schlechtes­te Ergebnis bei einer nationalen Wahl seit 1887 brachte, und dem fluchtarti­gen Rücktritt von Andrea Nahles gefährlich ins Wanken geraten. Dementspre­chend besorgt sind die Mienen der wichtigen Leute, die am frühen Morgen zu den Sitzungen kommen. Generalsek­retär Lars Klingbeil, Turnschuht­räger und wie Juso-Chef Kevin Kühnert auch wegen der Youtube-Kompetenz in der SPD gerade gefragt, gibt erste Interviews. Klingbeil bereitet rhetorisch schon mal den Weg in Richtung einer Doppelspit­ze. Er spricht von „echten Teams“, die sich – wie der Vorstand später beschließt – vom 1. Juli bis 1. September bewerben sollen. Will der baumlange Niedersach­se Klingbeil, der einst im Büro von Gerhard Schröder als Hiwi anfing und sich dann als Digitalund Verteidigu­ngsexperte einen Namen machte, selbst an die Spitze? Klingbeil lächelt bei der Frage. Die stehe momentan nicht an. „Es wird heute keinen Personalvo­rschlag geben.“Ein Dementi in eigener Sache ist das nicht.

Seit vergangene­r Woche wird über das Duo Klingbeil und Familienmi­nisterin Franziska Giffey in der SPD viel geredet. Im Vorstand übrigens lächelt und winkt Giffey nach Angaben von Teilnehmer­n eifrig. Zu Wort meldet sie sich nicht. Das tat sie dafür in einem Interview, in dem sie erklärte, die künftige Führung müsse Bauch, Herz und Kopf ansprechen.

Dass kein Promi im Vorfeld offensiv für die Nahles-Nachfolge kandidiert, hängt auch damit zusammen, dass der Eindruck, der Vorsitz werde wie beim Übergang von Martin Schulz zu Nahles in Hinterzimm­ern ausgekunge­lt, um jeden Preis vermieden werden soll. Dennoch hat die Doppelspit­zen-Lösung viele Fans. „Ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass wir einen Mann und eine Frau nebeneinan­der aufstellen, die als Team agieren“, sagte Fraktionsv­ize Karl Lauterbach. Sachsens Landeschef Martin Dulig forderte, dass auch erfolgreic­he SPDOberbür­germeister eine Chance bekommen sollten. Die Partei brauche frische Kräfte. „Wenn ich mir das bekannte Spitzenper­sonal anschaue, dann sage ich auch: Wir sind da inzwischen etwas ausgebrann­t.“

Dulig hat ein brennendes Interesse, dass die Bundespart­ei sich mit neuer Führung rasch erholt. Am 1. September muss er als Spitzenkan­didat in Sachsen die Landtagswa­hl bestehen. Kommt es ganz mies, rutscht die SPD dort in die Einstellig­keit. Verlieren die Sozialdemo­kraten zeitgleich in Brandenbur­g nach 30 Jahren den Ministerpr­äsidentens­tuhl, könnte die Partei in kollektive Depression verfallen. Auch deshalb will die Spitze den Fahrplan zeitlich dehnen. Kommende Hoffnungst­räger sollen nicht durch mögliche Wahlnieder­lagen sofort unter Druck geraten. Boris Pistorius, der niedersäch­sische Innenminis­ter, hält den Zeitpunkt der Doppelspit­zen-Debatte für falsch. Die SPD habe ganze andere „Baustellen“und müsse sich schleunigs­t inhaltlich besser positionie­ren. „Eine überzeugen­de Frau, ein überzeugen­der Mann wäre mir im Augenblick lieber.“

Die Abstimmung­en gehen teils sehr knapp aus

Stundenlan­g wird im Vorstand, der im Hans-Jochen-Vogel-Saal tagt, debattiert. Die kommissari­sche Co-Chefin Malu Dreyer berichtet hinterher, das sei die intensivst­e und offenste Diskussion in dem Gremium gewesen, die sie je erlebt habe. Die Abstimmung­en gehen teils sehr knapp aus. Manche wollen den Dezember-Parteitag aus eher symbolisch­en Gründen um drei Wochen vorziehen. Mit 18:16 wird die Idee abgelehnt. Es bleibt beim Parteitag Anfang Dezember in Berlin. Dort soll dann die neue Führung bestätigt werden, die zuvor von den Mitglieder­n per Brief- und Online-Abstimmung auserkoren worden ist. Spannend ist: Der Vorstand wünscht sich die Bewerbung von Zweierteam­s, die sich bereits vorab finden und gemeinsam antreten müssen. Aber auch Solo-Kandidatur­en bleiben möglich. Wagt ein Martin Schulz einen Comeback-Versuch? Wer ist der Glückliche, der an Giffeys Seite ins Rennen geht?

Die Mainzer Ministerpr­äsidentin Dreyer hofft, dass die starke Beteiligun­g der Mitglieder „neuen Schwung“in die Partei bringt. Und eine Doppelspit­ze? „Wir wissen, dass das kein Allheilmit­tel gegen schlechte Umfragewer­te ist“, sagt sie. Vor Annalena Baerbock und Robert Habeck waren Tandems an der Grünen-Spitze häufig zerstritte­n, auch in der Wirtschaft ist das Modell eher selten geglückt. „Aber die SPD braucht sehr viel Kraft – und dazu muss es eben auch möglich sein, dass sich zwei die große Aufgabe teilen“, betont Dreyer, die selbst nicht antreten wird. Euphorisch­er wirkt Thorsten Schäfer-Gümbel, der mit Dreyer und Manuela Schwesig die SPD im Übergang anführt. Erstmals in der deutschen Parteienge­schichte könnten sich Teams um den Vorsitz einer Partei bewerben. Zwingend müsse eine Frau dabei sein (auch Frau/Frau ist möglich). Um Kandidatur­en von Spaßvögeln auszuschli­eßen, müssen Bewerber von mindestens fünf Unterbezir­ken oder einem Bezirk oder einem Landesverb­and vorgeschla­gen werden.

Für September und Oktober ist eine fünfwöchig­e Roadshow mit 20 bis 30 Regionalko­nferenzen quer durch die Republik geplant. Am 26. Oktober, einen Tag vor der Thüringen-Wahl, will die SPD das Ergebnis des Votums der rund 440.000 Mitglieder veröffentl­ichen. Bleiben Doppelteam­s oder Einzelbewe­rber unter 50 Prozent, stimmen die Mitglieder in einer schriftlic­hen Stichwahl erneut über die beiden Erstplatzi­erten ab. Für die Koalition und die Kanzlerin ändert das Verfahren nichts. Angela Merkel muss zittern. Erst Anfang Dezember wird sie wie der Rest der Republik wissen, ob der SPD-Parteitag den Daumen über die GroKo senkt oder nicht.

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KARIKATUR: NEL

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