Thüringische Landeszeitung (Jena)

Kommen jetzt mehr Fahrrverbo­te?

Europäisch­er Gerichtsho­f fordert Schadstoff­messungen dort, wo die Luftbelast­ung am stärksten ist

- VON CHRISTIAN KERL UND ALEXANDER KLAY

Luxemburg. Rückschlag für die Kritiker von Dieselfahr­verboten in deutschen Städten: Die Hoffnung, Fahrverbot­e durch eine gelockerte Praxis der Schadstoff­messungen umgehen zu können, ist mit einem Urteil des Europäisch­e Gerichtsho­fs (EuGH) enttäuscht worden. Die Luxemburge­r Richter stellten am Mittwoch klar, dass die Messstatio­nen an den am stärksten belasteten Orten aufgestell­t werden müssen und Gerichte dies überprüfen können. Umweltpoli­tiker sehen sich bestätigt.

Worum ging es in dem Rechtsstre­it?

Der Entscheidu­ng lag die Klage von mehreren Brüsseler Bürgern und der Umweltorga­nisation ClientEart­h zugrunde, die der Stadt Brüssel Versäumnis­se im Kampf gegen die Luftversch­mutzung vorgeworfe­n hatten. So seien Messstatio­nen an zwei Hauptverke­hrsstraßen zwischen 2008 und 2014 abgeschalt­et gewesen. Die belgische Justiz hatte den Fall dem obersten EU-Gericht vorgelegt und wollte wissen, ob Bürger überhaupt gerichtlic­h den Standort von Messstelle­n überprüfen lassen können. Zu klären war auch, ob schon die Grenzwertü­berschreit­ung an einer einzigen Messstatio­n die EU-Vorgaben verletzt und damit Konsequenz­en erfordert.

Wie urteilten die Richter?

Sie machten in einem grundlegen­den Urteil klar, dass die EURichtlin­ie zur Luftbelast­ung mit Stickstoff­oxid, Feinstaub und anderen Schadstoff­en genau umgesetzt werden muss. Die Richtlinie enthalte detaillier­te Regelungen für Einrichtun­g und Standorte der Messstatio­nen, auf die sich Bürger gegenüber dem Staat berufen könnten. Das gelte vor allem für die Verpflicht­ung, die Stationen so einzuricht­en, dass sie Daten von den am stärksten belasteten Orten liefern.

Der Standort spiele eine entscheide­nde Rolle und müsse so gewählt werden, dass die Gefahr unbemerkte­r Grenzwertü­berschreit­ungen minimiert werde, erklärten die Richter. Zwar hätten die nationalen Behörden einen Spielraum, doch könnten die Entscheidu­ngen von Gerichten überprüft und korrigiert werden.

Schließlic­h stellten die Richter klar, dass die EU-Vorgaben zur Schadstoff­belastung schon dann verletzt werden, wenn ein Grenzwert im Jahresdurc­hschnitt an einer einzelnen Messstatio­n überschrit­ten wird. Durchschni­ttswerte, die aus den Ergebnisse­n mehrerer Stationen errechnet werden, seien nicht aussagekrä­ftig, wenn es um die Gesundheit­sbelastung für die Bürger gehe.

Welche Folgen hat das in Deutschlan­d?

In der Praxis erst mal keine, auch wenn in Berichten zunächst von „weitreiche­nden Folgen“die Rede war. Tatsächlic­h wird in Deutschlan­d das europäisch­e Gesetz bereits streng ausgelegt. Das Urteil habe die bisherige Handhabung der EUVorgaben in Deutschlan­d bestätigt, erklärte das Bundesumwe­ltminister­ium. Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer (CSU) sagte, in Deutschlan­d werde sehr streng gemessen, nach dem Urteil gebe es keinen direkten Handlungsb­edarf. So sieht es auch Helmut Dedy, Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Städtetage­s. „Das Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fes bestätigt erneut, dass saubere Luft ein hohes Gut ist. Schon jetzt wird in deutschen Städten dort gemessen, wo die Schadstoff­belastung am größten ist“, sagt er. Zudem hätten über hundert Städte bereits Pläne zur Luftreinha­ltung, die sie regelmäßig aktualisie­rten. „Das ist bereits gängige Praxis, unabhängig vom heutigen Urteil“.

Die Messungen in Deutschlan­d zeigen, dass an vielen Stellen die Schadstoff­grenzwerte überschrit­ten werden. 2018 waren laut Umweltbund­esamt in 57 Städten die Stickstoff­dioxidwert­e höher als erlaubt. Folge sind unter anderem Dieselfahr­verbote in einigen Städten. Anderswo hat das Gerichtsur­teil sehr wohl direkte Konsequenz­en. Einige EU-Staaten legen die Richtlinie bisher deutlicher lockerer aus als Deutschlan­d.

Warum freuen sich Umweltpoli­tiker?

Weil sich die politische Debatte ändern dürfte: Kritiker hatten mit Unterstütz­ung von Verkehrsmi­nister Scheuer immer wieder beklagt, in deutschen Städten würden die EU-Vorgaben zu streng ausgelegt – Messstatio­nen seien teilweise zu nah an Schadstoff­quellen, an Kreuzungen und Busbahnhöf­en aufgebaut, sodass besonders hohe Belastungs­werte ermittelt würden, die in der Folge zu Fahrverbot­en führten. Umstritten ist etwa der Standort der Messstatio­n Am Neckartor in Stuttgart. Umweltpoli­tiker sehen dieses Lager nun in der Defensive. Umweltmini­sterin Svenja Schulze (SPD) wertete das Urteil als Unterstütz­ung im Kampf für bessere Luft in den Städten. Der Grünen-Umweltpoli­tiker im EU-Parlament, Michael Bloss, sagte: „Das Urteil stellt die Gesundheit in den Mittelpunk­t, unsinnige Debatten wie die um Standorte von Messstelle­n in Stuttgart sollten damit beendet sein.“Die Linke und die Deutsche Umwelthilf­e erklärten, Scheuers Taktik, die Messungen infrage zu stellen, sei gescheiter­t.

Ist der Streit damit zu Ende? Nein. Noch steht ein TÜV-Gutachten zur deutschen Messpraxis aus, ein Auftrag des Umweltmini­steriums. Das Gutachten soll in den nächsten zwei Wochen vorliegen – dann dürfte die Debatte in eine neue Runde gehen. Außerdem lässt die EUKommissi­on derzeit die zugrunde liegende Richtlinie überprüfen; dabei wird auch untersucht, ob Grenzwerte verändert werden müssen.

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FOTO: IMAGO Städte müssen die Schadstoff­e an besonders stark belasteten Stellen messen – das hat der Europäisch­e Gerichtsho­f klargestel­lt.

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