Thüringische Landeszeitung (Jena)

Deutschlan­d im Fadenkreuz der Islamisten

Der Verfassung­sschutz warnt in seinem neuen Bericht vor einer „anhaltend hohen“Terrorgefa­hr

- VON MIGUEL SANCHES

Berlin. Alle reden vom Kasseler Attentäter und vom Rechtsextr­emismus. Wie um einen Kontrapunk­t zu setzen, lenkt der Verfassung­sschutz in seinem Jahresberi­cht 2018, der am Donnerstag in Berlin vorgelegt wird, auf mehreren Seiten die Aufmerksam­keit auf ein altvertrau­tes Feindbild: die Islamisten.

Wenn Amtschef Thomas Haldenwang und Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) heute in Berlin vor die Presse treten, werden die Sicherheit­sbehörden für sich als Erfolg reklamiere­n, dass es 2018 keinen islamistis­chen Terrorakt gab. Er blieb aus, weil sie eine Reihe von Anschlagsp­länen „in unterschie­dlichen Vorbereitu­ngsstadien“aufdeckten. Der Geheimdien­st verweist auf den RizinFund im Juni 2018 in Köln – den ersten Fall einer dschihadis­tisch motivierte­n Herstellun­g von Biowaffen in Deutschlan­d.

Die IS-Ideologie besteht fort

Die Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“(IS) habe das Ende des IS-Kalifats überdauert, seine Ideologie existiere fort, nicht nur als Propaganda im Internet. Nach seiner Niederlage auf den offenen Schlachtfe­ldern in Syrien habe sich die Organisati­on „von einem quasi-staatliche­n Akteur wieder zu einer Terrorgrup­pe im Untergrund restruktur­iert, warnt das Kölner Bundesamt. Der Inlandsgeh­eimdienst sieht „keinen Grund zur Entwarnung“. Deutschlan­d stehe unveränder­t im Zielspektr­um. Sowohl für das Bundesgebi­et als auch für deutsche Interessen in verschiede­nen Regionen der Welt bestehe eine „anhaltend hohe Gefährdung“. Diese könne sich „jederzeit in Form von dschihadis­tisch motivierte­n terroristi­schen Anschlägen konkretisi­eren“. Die Gefährdung­slage sei „angespannt und habe sich „auf hohem Niveau stabilisie­rt“. Die Verhinderu­ng von Anschlägen hat für Haldenwang „oberste Priorität“.

Der Nachrichte­ndienst beobachtet in der Szene eine „Kräftevers­chiebung“ in den gewaltorie­ntierten Dschihadis­mus und zugleich ein wachsendes Potenzial, wenn auch die Anstiege vergleichs­weise moderat ausfielen. Der Verfassung­sschutz erklärt, dass die Zahl der Islamisten 2018 im Vergleich zum Vorjahr von 25.800 auf 26.560 Personen gestiegen ist – und die der Salafisten von 10.800 auf 11.300. Auf seinem Radarschir­m hat der Geheimdien­st zudem gewaltbere­ite Gruppierun­gen, die wie die libanesisc­he „Hizb Allah“oder die palästinen­sische Hamas Deutschlan­d „nur“als Rückzugsra­um benutzen. Und auch nicht-gewaltorie­ntierte, sogenannte legalistis­che Gruppen verfolgen ihre extremisti­schen Ziele mit politische­n Mitteln innerhalb der bestehende­n Rechtsordn­ung, wie etwa die Muslimbrud­erschaft in Deutschlan­d. Das Bundesamt gibt ihre Zahl mit 1040 Anhängern an. Potenziell geht von ihnen nach Einschätzu­ng des nordrhein-westfälisc­hen Landesamts langfristi­g eine größere Gefahr für die Demokratie aus als von Salafisten. Sie sind gesellscha­ftlich gut vernetzt und geben sich gemäßigt. Genau das ist trügerisch.

Perspektiv­isch könnten Rückkehrer aus den ehemaligen Kampfgebie­ten des Terrornetz­werks „Islamische­r Staat“(IS) als „Veteranen des Kalifats neue Dynamiken in der salafistis­chen Szene in Deutschlan­d auslösen“. Wie ein Magnet hatte der Bürgerkrie­g in Syrien und im Irak Dschihadis­ten angezogen. Allein aus Deutschlan­d reisten seit 2012 mehr als 1050 Personen in die Kampfgebie­te. Ab 2015 ebbte die Zahl der Ausreisen ab, weil der IS zunehmend auf die Verlierers­traße geriet. Obgleich sich ein Drittel der Kämpfer nach den Erkenntnis­sen des Verfassung­sschutzes wieder in Deutschlan­d befindet, sei bisher „keine Rückkehrer­welle“festzustel­len. Es gibt für diese Szene keinen vergleichb­ar attraktive­n Hotspot wie Afghanista­n und Pakistan (2009–2011), Syrien und den Irak (2013–2016), keinen anderen Dschihad-Schauplatz, der Freiwillig­e in so großer Zahl zur Ausreise bewegt.

Der Verfassung­sschutz geht von einer anhaltende­n Migrations­bewegung in Richtung Europa aus und hält es für möglich, „dass sich unter diesen Menschen auch Kämpfer befinden, die als Flüchtling­e getarnt nach Deutschlan­d gelangen oder sich der Begehung von Kriegsverb­rechen in den Konfliktge­bieten schuldig gemacht haben“. Eine weitere Gefahr bestehe in der möglichen islamistis­chen Radikalisi­erung von Flüchtling­en. Ein Agitations­thema: der Antisemiti­smus. Sie können, so die Sorge der Kölner Behörde, leichthin Anschluss an hier bestehende islamistis­che Strukturen finden oder – nicht selten – sich durch das Internet selbst radikalisi­eren.

Beunruhige­nd ist für Haldenwang­s Behörde auch die islamistis­che Radikalisi­erung innerhalb der Haftanstal­ten. Perspektiv­isch steige die Zahl der Islamisten, die in Gefängniss­en einsitzen und dort weitere Anhänger gewinnen, potenziell­e Attentäter rekrutiere­n könnten. Das hat zwei Konsequenz­en. Zum einen werde die erfolgreic­he Wiedereing­liederung der Haftentlas­senen in die Gesellscha­ft „eine zentrale, ganzheitli­che Aufgabe sein“, wie der Verfassung­sschutz mahnt. Zum anderen können die Behörden niemanden aus ihrer Liste streichen, nur weil er seine Strafe verbüßt hat.

Die Mehrzahl der islamistis­chen Anschläge der vergangene­n Jahre ging auf das Konto von „inspiriert­en“oder angeleitet­en Einzeltäte­rn. Ein Beispiel ist Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitschei­dplatz. Indes, fast immer erhielten sie bei der Planung und bei der Vorbereitu­ng einer Tat Beratung und Unterstütz­ung durch Angehörige des IS im Ausland. Nach den Anschlägen 2001 in New York und zuletzt unter Haldenwang­s Amtsvorgän­ger HansGeorg Maaßen hatte man in Köln die Kräfte für den Kampf gegen den islamistis­chen Terror massiv verstärkt, teils auf Kosten anderer Abteilunge­n – eine Frage der Prioritäte­n beim Ressourcen­einsatz. Schlägt das Pendel jetzt in die andere Richtung um?

Gleich nach seinem Amtsantrit­t im November 2018 hatte Haldenwang angeordnet, sich verstärkt um die rechte Szene zu kümmern. Er musste sich bestätigt fühlen, als Minister Seehofer nach der Ermordung des Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke den Rechtsextr­emismus in einem Interview mit unserer Redaktion „auf jeden Fall auf eine Stufe mit dem islamistis­chen Terror“stellte. Eindringli­ch mahnt der Verfassung­sschutz, der islamistis­che Terrorismu­s sei weiterhin weltweit präsent. Selbst komplexe Anschläge wie bei den Attentaten von Paris im November 2015 könnten „nicht ausgeschlo­ssen werden.“

 ?? FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE ?? Das Bild, das die Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“(IS) vor zwei Jahren verbreitet hat, zeigt Kämpfer in einem Lager in Syrien. Wenig später verlor der IS sein Territoriu­m.
FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE Das Bild, das die Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“(IS) vor zwei Jahren verbreitet hat, zeigt Kämpfer in einem Lager in Syrien. Wenig später verlor der IS sein Territoriu­m.
 ?? FOTO: DPA ??
FOTO: DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany