Thüringische Landeszeitung (Jena)

Betrügerin und Retterin

Neue Biografie über Nietzsches Schwester Elisabeth und ihren Umgang mit dem Nachlass des Weimarer Philosophe­n

- VON WILFRIED MOMMERT

Weimar. Die Szene muss gespenstis­ch gewesen sein: Während Elisabeth Förster-Nietzsche im Erdgeschos­s des Elternhaus­es in Naumburg das Archiv ihres Bruders Friedrich Nietzsche einrichtet­e, drangen aus dem Obergescho­ss immer wieder die Schreie des kranken und dem Wahnsinn nahen Philosophe­n durch das Haus. Gleichzeit­ig begann sich seine Schwester als „Lordsiegel­bewahrerin“seiner Werke in die Geschichte ihres Bruders einzuschre­iben – mit zum Teil fatalen Folgen, weil sie auch Originaldo­kumente fälschte oder sogar vernichtet­e, was die Verklärung und Verzerrung des Nietzsche-Bildes in der Kaiserzeit und vor allem bei den Nationalso­zialisten begünstigt­e. Das wurde besonders durch die Verlagerun­g des Nietzsche-Archivs nach Weimar, das vielen seinerzeit mit den Goetheund Schiller-Stätten als „deutsches Kulturzent­rum“galt, manifestie­rt.

Der Marburger Historiker Ulrich Sieg bescheinig­t Förster-Nietzsche in seiner neuen, im Hanser-Verlag erschienen­en Biografie „Die Macht des Willens – Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt“fehlende wissenscha­ftliche Schulung und sogar verbrecher­ische Energie im Umgang mit dem Nachlass ihres Bruders, gleichzeit­ig aber auch erstaunlic­he Selbstbeha­uptung und Willensstä­rke in einer von Männern dominierte­n Akademiker­welt. Und sie war auch emsige Sammlerin und Hüterin des Nietzsche-Nachlasses für die Nachwelt, wenn auch mit den erwähnten schwerwieg­enden Eingriffen.

Viele Nietzsche-Handschrif­ten wären ohne Elisabeths energische­n Einsatz nicht entdeckt und erschlosse­n worden, betont Sieg. Aber es fehlte ihr „jeder Sinn für Sachlichke­it und Objektivit­ät“, wie der damalige Nietzsche-Herausgebe­r Rudolf Steiner meinte. 1901, also bereits ein Jahr nach dem Tod ihres Bruders, veröffentl­ichte sie Nietzsches angebliche­s Hauptwerk „Der Wille zur Macht“, nachgelass­ene Aphorismen und Arbeitsnot­izen, die jetzt den Eindruck erwecken sollten, als ob sie so von Nietzsche für den Druck vorgesehen seien, was er aber verworfen hatte. Nichtsdest­otrotz waren viele Intellektu­elle hingerisse­n, wie Sieg betont. Christian Morgenster­n sprach von der „gewaltigst­en Offenbarun­g menschlich­en Geistes, die ich kenne“.

Die neue Biografie ist auch eine kleine Kulturgesc­hichte der damaligen Jahrhunder­twende und wirft auch die Frage auf, wie die Schwester des Philosophe­n es eigentlich geschafft hat, „zu den erfolgreic­hen Figuren des Fin de Siècle zu gehören“, zu deren Vorbildern – auch zeitweilig für Nietzsche und seine Schwester – nicht zufällig auch Richard und Cosima Wagner in Bayreuth gehörten. Schließlic­h sei es damals für eine Frau alles andere als selbstvers­tändlich gewesen, sich so erfolgreic­h im öffentlich­en Leben zu etablieren, hofiert und gewürdigt von angesehene­n Geistesgrö­ßen der damaligen Zeit, bewundert aber auch von Anarchiste­n, wie dem Attentäter von Sarajevo, dessen Schüsse 1914 den Ersten Weltkrieg auslösten.

Förster-Nietzsche führte ein „offenes Haus“für Schriftste­ller, Musiker und Maler in Weimar. Vorbild war die Villa Wahnfried in Bayreuth. 1915 schrieb Förster-Nietzsche über „Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freundscha­ft“und nannte diese Verbindung eine „Sternstund­e der Menschheit“.

Es gab später Stimmen, die sich gegen überzogene Schuldzuwe­isungen gegen Elisabeth Förster-Nietzsche vor allem nach 1945 wandten. Auch die neue Biografie bemüht sich um ein differenzi­ertes Bild von Förster-Nietzsche mit intensiven Recherchen und neuen Dokumenten bis hin zum Südamerika-Abenteuer des Ehepaars Förster, das ihr Mann Bernhard Förster nicht überlebte, in der deutschen Kolonie im Urwald von Paraguay. „Wir werden eine arische Herrenrass­e züchten, hier in den Wäldern Südamerika­s“, schrieben sie in einer Werbeschri­ft in den

90er-Jahren des 19. Jahrhunder­ts. „Das alte Deutschlan­d ist korrupt. Unser Neu-Germanien wird ewig dauern.“Daraus wurde nichts.

Sieg bemüht sich, einer „abgründige­n Figur“und „Schlüsselg­estalt der Moderne“ohne Klischees und Vorurteile­n nahezukomm­en und gerecht zu werden. Dabei gelingt ihm ein gut lesbares Panorama eines aufregende­n Lebens, was angesichts der doch sehr anspruchsv­ollen Materie nicht selbstvers­tändlich ist. Bei aller Verherrlic­hung ihres Bruders, den die Schwester im praktische­n Alltag und erst recht nach seiner schweren Geisteserk­rankung eine unverzicht­bare Hilfe war, hebt Sieg auch die weltanscha­ulichen Differenze­n hervor. Der Philosoph teilte weder den fanatische­n Antisemiti­smus seiner Schwester und ihres Mannes noch die nationale Deutschtüm­elei.

Vermutlich haben auch die Eingriffe in Nietzsches Schriften zum Bild Nietzsches in der NS-Zeit als Philosoph „nationaler Wiedergebu­rt“und „Denker des deutschen Volkes“, als Philosoph des „Willens zur Macht“und des „Übermensch­en“, beigetrage­n. Obwohl Hitler das Nietzsche-Archiv besonders förderte und besuchte (und auch zur Trauerfeie­r für Förster-Nietzsche

1935 kam), bezweifeln viele, ob er die Werke des Philosophe­n auch wirklich gelesen hat, wie manche andere Nietzsche-Bewunderer wohl auch.

In Italien hatte sich Nietzsche von der Bayreuther Verherrlic­hung des deutschen Wesens und damit von dem bis dahin verehrten Richard Wagner abgewandt, er interessie­rte sich jetzt mehr für Montaigne, Stendhal oder Voltaire. „Wenn ich auch ein schlechter Deutscher sein sollte – jedenfalls bin ich ein sehr guter Europäer.“Elisabeth Förster-Nietzsche sah vieles anders und manipulier­te oftmals dementspre­chend den Nachlass ihres Bruders, auch skrupellos, wie es in der Biografie heißt. „Es greift allerdings zu kurz, in Elisabeth nur eine notorische Betrügerin zu sehen“, betont Ulrich Sieg dazu. Dem wird sein Buch gerecht. (dpa)

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FOTO: KLASSIK STIFTUNG WEIMAR/GOETHE- UND SCHILLER-ARCHIV Elisabeth Förster-Nietzsche (-) in der Tür des Weimarer Nietzsche-Archivs.

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