Thüringische Landeszeitung (Jena)
Die Sorgen der Schwermetaller
Nächstes Metal Open Air in Schlotheim für 2021 geplant. Doch die Sorgen der Macher sind groß
„Willkommen in der Hölle“: So heißt es normalerweise immer in der 32. Kalenderwoche beim Heavy-Metal-Open-Air Party.San auf dem Flugplatz Obermehler. Derzeit bleibt es leise, weil keine Festivals dieser Art stattfinden können. Mario Flicke fürchtet um die Zukunft seiner Branche, denn bisher gibt es keine Konzepte, die solche mehrtägigen Veranstaltungen in den kommenden Jahren möglich erscheinen lassen.
In normalen Zeiten wären die ersten Festivalbesucher längst da – und würden am heutigen Donnerstag ungeduldig auf den offiziellen Beginn der Freiluftveranstaltung auf dem Flugplatz Obermehler bei Schlotheim (Unstrut-Hainich-Kreis) warten. Drei, vier Tage Auszeit. Haare schütteln. Tanzen. Freunde treffen, feiern, trinken, zelten… Und die Musik hören, die nur gut ist, wenn sie laut ist: Heavy Metal.
Immer in der 32. Kalenderwoche gibt es diese laute Auszeit: Party.San. Doch in diesem Jahr ist alles anders: Keine großen Festivals unter freiem Himmel. Nirgends. Die Hoffnung richtet sich auf 2021: Dann soll vom 12. bis 14. August gefeiert werden. Dabei ist allerdings noch überhaupt nicht klar, welche Regeln dann für Veranstaltungen unter freiem Himmel gelten, zu denen normalerweise 10.000 Besucher erwartet werden. 1,5 Meter Abstand halten und Mund-NaseSchutz tragen? Das ist im Gewühle vor der Bühne utopisch, macht Party.San-Geschäftsführer Mario Flicke im Gespräch mit dieser Zeitung klar. Wer will, kann an diesem Wochenende von Freitag bis Sonntag im Internet dem Musikprogramm der Europäischen Metal-FestivalAllianz (Emfa) folgen. Das soll an großartige Veranstaltungen an 13 Orten in ganz Europa erinnern. Die Benefizveranstaltung taugt als Ausnahme. Streaming aber kann nicht die eigentliche Party in der großen Gemeinschaft derer, die sich normalerweise Jahr für Jahr treffen, ersetzen. Das sagen Flicke und sein Stellvertreter Jörg Brauns, beide seit 1999 bei Party.San. Drei Jahre zuvor hatte das Festival in Tiefengruben im Weimarer Land seinen Anfang genommen, sich seither in der Szene einen Namen gemacht und mit dem Umzug nach Obermehler längst einen gesicherten Standort gefunden.
Die große Frage ist: Wie werden die Regeln 2021 sein?
Dass nichts bleiben würde wie geplant, das war Flicke und Brauns an jenem Freitag, dem 13., im März klar, als es in Weimar hieß, dass es auf lange Zeit keine großen Veranstaltungen mehr geben würde. Da hatten sie bereits 1700 der 10.000 Karten für Party.San 2020 verkauft – und die allermeisten Ticketinhaber waren auch bereit, die Karten zu behalten: In der Hoffnung, dass
2021 wieder gefeiert werden kann. Flicke und Brauns schätzen früh ein: „Wir werden die internationalen Musiker gar nicht nach Europa holen können.“Damals haben sie auf Verschieben um ein Jahr gesetzt – das heißt: das Line-up, also die Auftritte der Bands, sollten auf
2021 umgebucht werden. Flicke sagt, es sei ihrem Unternehmen von vorneweg darum gegangen, eigenständig ein tragfähiges Konzept zu entwickeln. Aber was ist sicher, rechtssicher? Oder anders gefragt: Welche Anforderungen müsste eine coronasicheres Open Air erfüllen? Und wenn es das gibt: Welche Regeln werden im Sommer nächsten Jahres gelten? Wird es überhaupt eine Möglichkeit geben, wieder solche großen Veranstaltungen anzubieten? Flicke und Brauns sehen hier zunächst die Politik am Zug: Wie viel Schutz ist nötig? Welches Risiko geht von so einem Festival überhaupt aus? Genügt es im kommenden Jahr, wenn die Nachverfolgung durch das Gesundheitsamt gesichert ist? Wäre das der Fall, wäre Flicke geholfen: „Personalisierte Ticket zu verkaufen, das ist nicht das Problem.“Brauns wirft ein: „Wir können aber nicht den Besucher sagen, du stehst hier an diesem Platz für zwei Stunden.“Ein Metal-Festival ist kein Operettenabend, bei dem sich die Gäste mit Mund-NaseSchutz zum fest montierten und vom Nachbarn weit entfernten Sitz begeben, um – als Maximum der Gefühlsaufwallung – beim Schlussapplaus mit den Füßen zu trampeln, ehe wieder zum Rausgehen die
Maske aufgesetzt wird... Metal-Fans suchen die körperliche Nähe vor der Bühne. Es wird mitgesungen und gebrüllt. Und wenn erst der Alkohol fließt, liegen sich die Menschen auch in den Armen… „Abstand halten ist kaum möglich“, sagt Brauns aus langjähriger Erfahrung.
Mit Hygiene und Sicherheit haben die Veranstalter viel Erfahrung
Es ist nicht so, dass es bisher keine Hygiene- und Sicherheitsregeln gegeben hätte, betont Flicke und berichtet davon, wie die Vorkehrungen immer strenger wurden in den vergangenen Jahrzehnten. Spültoiletten, Urinale, Waschmöglichkeiten, überhaupt frisches Wasser – das gehört längst zum Standard eines Festivals. Selbst mit dem Müllsammeln verdienen sich einige Menschen bei solchen Veranstaltungen gutes Geld, wie überhaupt ziemlich viele Menschen rund um die Festivaltage benötigt werden. Soloselbstständige oft, die jetzt wegen des des Totalausfalls in der Eventbranche nichts verdienen. Und bei denen auch die staatliche Hilfe nicht ausreichend ankommt. In den vergangenen Jahren wurden bei Festivals zudem je Anforderungen im Bereich der Sicherheit hochgeschraubt, die helfen sollen, Anschläge zu vermeiden. Wie aber soll die Security Besucher abtasten, wenn sie ihnen nicht näher als 1.50 Meter kommen darf? Und wenn ein Festival nicht stattfindet, dann hat das Auswirkungen auf viele Geschäftspartner in der Region: Hotels, Pensionen, Caterer, Helfer…
Absagen lässt sich zunächst alles, aber lässt sich auch alles regeln – halbwegs sicher? Die wissenschaftlichen Versuche, Risiken bei Großveranstaltungen zu simulieren, sind noch nicht in Gang gekommen. Ein Versuch in Münster wurde abgesagt. Leipzig scheint für die Teilnehmer zu unattraktiv… „Wir beobachten die Lage sehr genau“, sagt Flicke. Brauns fragt sich, ob sich die jetzt für den Winter angekündigten Shows in Hallen überhaupt rentieren. Sie haben den Eindruck, dass ihre Branche – die je nachdem, wer alles dazu gerechnet wird, immerhin zweieinhalb bis mehr als drei Millionen Menschen feste Arbeit gibt – ins Hintertreffen gerät. Die Nothilfen erreichen nur einen geringen Teil derer, die in diesem Bereich oft saisonabhängig oder auf freier Basis arbeiten. „Klar, wir haben in den vergangenen Jahren keine Lobby aufgebaut wie die Autoindustrie oder gar der Bergbau, der übrigens viel viel weniger Arbeitsplätze sichert. Wir haben dem Staat nicht auf der Tasche gelegen – und deshalb tauchen wir jetzt auch kaum auf“, sagt Flicke. „Wir sind der fünft- oder sechststärkste Wirtschaftszweig in Deutschland“, sagt Brauns – und er verstehe nicht, „warum man uns jetzt so hängen lässt.“Zugleich betont Flicke, dass gerade die Festivalszene eine gesellschaftliche und soziale Katalysatorfunktion habe: Die Menschen, die sich für ein Wochenende lang treffen, erleben etwas, das sie verbindet. Sie lassen Frust ab und fahren entspannt nach Hause. Jetzt, da schon so lange alle Klubs dicht und alle Musik-Großveranstaltungen abgesagt sind, zeige sich, wie schnell sich die Lage aufschaukeln könne, wenn in den Städten nur noch öffentliche Plätze und Parks bei Nacht Treffpunkte seien.
Es wird nicht mehr wie vorher, weil viele Menschen Angst haben
Flicke hat sich ganz intensiv mit Corona beschäftigt. Den Einlass an die Vorlage eines Negativtests zu koppeln, hält er für illusorisch. Picknickdecken passen nicht zu seinem Publikum. Ein Impfstoff wird nicht alle schützen – und wie die Risikogruppen geschützt werden können, ohne Teile des Alltags lahm zu legen, ist ungewiss. Es gehe um Eigenverantwortung: „Wir werden niemals ein risikofreies Leben haben“, gibt Flicke zu bedenken. „Es wird nicht einfach wieder wie vorher.“Brauns rechnet, wenn es wieder losgehen könnte, mit 30 bis 40 Prozent Besucherschwund: „Ein Teil wird ängstlich zuhause bleiben – unabhängig von der Gefahr.“Flicke kritisiert die Verunsicherung. wie er sagt. Klar ist für beide: Gibt es keine Festivals 2021, müssten vor allem kleinere Unternehmen aufgeben. Große Firmen drängen auf den Markt… Umso wichtiger ist für Brauns Planungssicherheit. Flicke und Brauns hoffen auf Party.San 2021: „Wir retten uns über das eine Jahr, auch mit Appellen an die Solidarität unserer Gäste.“