Thüringische Landeszeitung (Jena)

Angeklagte­r gesteht Schuss auf Lübcke

Im Prozess um den Mord an dem Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke kehrt der Hauptangek­lagte zu seiner früheren Aussage zurück – und gesteht

- Von Miguel Sanches

Im Prozess um den Mordfall Walter Lübcke hat der Hauptangek­lagte Stephan Ernst erstmals vor Gericht den tödlichen Schuss auf Kassels Regierungs­präsidente­n eingeräumt. „In dem Moment sah ich, dass er wieder aufstehen wollte – und da habe ich geschossen“, erklärte er in einem Geständnis, das sein Anwalt Mustafa Kaplan verlas. Der Kasseler Regierungs­präsident Lübcke war im Juni 2019 auf der Terrasse seines Wohnhauses getötet worden. Ernst steht vor dem Oberlandes­gericht Frankfurt/M. Der Generalbun­desanwalt wirft ihm rechtsextr­emistische Motive vor.

Walter Lübcke ist ein großer kräftiger Mann und niemand, der sich leicht einschücht­ern lässt. „Verschwind­en Sie“, herrscht er – im Gartenstuh­l sitzend – die Eindringli­nge auf seiner Terrasse an. „Beweg dich nicht“, hatte Stephan E. zu ihm gesagt. „Du sollst dich nicht bewegen“, ruft er erneut, als Lübcke doch aufstehen will. Vielleicht habe er nur darauf gewartet. Denn E. drückt ab – ein Pistolensc­huss aus nächster Entfernung. „Ich habe geschossen.“

Im Fluchtauto sagt der 46 Jahre alte E. zu seinem Freund, Arbeitskol­legen, Komplizen und Mitangekla­gten Markus H.: „Ich glaube, ich habe ihn am Kopf erwischt.“So schildert er am Mittwoch im Saal 165 C des Frankfurte­r Oberlandes­gerichts die Mordnacht vom 1. auf den 2. Juni 2019. Das Geständnis trägt der Hauptangek­lagte nicht selbst vor. Verteidige­r Mustafa Kaplan liest eine Erklärung mit 15 Punkten vor.

„Die Radikalisi­erung ging von ihm aus. Und ich habe es ihm erlaubt, so mit mir umzugehen.“Stephan E. über den Mitangekla­gten Markus H.

E. lässt sich aber vom Vorsitzend­en Richter Thomas Sagebiel überreden, Fragen zu beantworte­n. Er entschuldi­gt sich bei der Witwe und den Söhnen des früheren CDU-Politikers und Kasseler Regierungs­präsidente­n. Was er getan habe, tue ihm sehr leid – dies wiederholt Kaplan dreimal. Der Mord sei „falsch, feige und grausam“gewesen. E. sitzt der Familie Lübcke gegenüber, sucht aber keinen Blickkonta­kt.

Er übernehme für den Mord „die Verantwort­ung“. Er habe sich von „falschen Gedanken und falschen Personen“leiten lassen. Da ist zunächst der Vater, ein Säufer, der regelmäßig Frau und Kinder verprügelt und Ausländer hasst. Und dann ist da Markus H., der nach E.s Darstellun­g „dominant“auftritt und von dem sich E. „manipulier­t“fühlt.

„Die Radikalisi­erung ging von ihm aus. Und ich habe es ihm erlaubt, so mit mir umzugehen“, lässt E. erklären. H. ist es, der das Opfer aussucht („ein Volksverrä­ter“), der Ort und Zeitpunkt der Tat diktiert, der die Waffen besorgt und nach der Tat wieder verschwind­en lässt.

Im Fluchtauto behält H. stets die Nerven und beruhigt den Mörder. „Fahr normal“, ruft er E. zu, der am Steuer sitzt. H. ist nach E.s Erzählung

auch der Erste, der Lübcke kurz vor Mitternach­t auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Istha mit den Worten „Zeit zum Auswandern“überrascht. Es ist eine zynische Anspielung auf einen Auftritt Lübckes bei einer Bürgervers­ammlung in Lohfelden, Nordhessen, am 14. Oktober 2015. Lübcke hatte Angela Merkels Flüchtling­spolitik und das Grundgeset­z verteidigt und gerufen: „Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen.“Dafür soll er büßen. Die Neonazis wollen ihn zur Rede stellen und „nur“schlagen, aber der Waffeneins­atz ist eine Option. „Wenn der blöd kommt, dann schießt du“, befiehlt H. Die Waffe sei dafür dagewesen, Lübcke vielleicht mit einem Warnschuss einzuschüc­htern, erzählt Stephan E. War es also bloß eine Affekthand­lung?

Welche Rolle spielte H., gibt es ein rechtsextr­emes Netzwerk?

„Das war nicht vorher verabredet“, beteuert E. Anderersei­ts: Beide bereiten die Tat lange vor. Über Jahre hinweg kundschaft­en sie ihr Opfer aus. Sie suchen einen Tag aus, an dem im Dorf Kirmes und es damit laut ist. Viele Zeugen sind nicht zu erwarten, und im Krach geht ein Schuss leicht unter. E. schraubt falsche Kennzeiche­n an sein Auto, lässt sein Handy zu Hause, um nicht geortet zu werden, und hat sogar eine Wärmebildk­amera dabei, um in der Dunkelheit der Nacht etwaige Zeugen zu erkennen. Maskiert sind E. und H. nicht.

„Für so was wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten“, sagt E., als er Lübcke mit der linken Hand in den Gartenstuh­l presst. Das ist der entscheide­nde Fehler – eine winzige DNA-Spur an der Kleidung des Opfers wird später den Verdacht auf den Neonazi lenken.

Es gibt drei Widersprüc­he in seinem Leben. Erstens, als Schüler ist er mit Ausländern befreundet, seine spätere Ehefrau ist russischst­ämmig. Zweitens, jahrelang ist er umweltpoli­tisch aktiv und steht nach eigenen Worten den Grünen nahe. Die Radikalisi­erung im rechten Bereich beginnt erst – nach Diebstähle­n – bei einem Aufenthalt in der Justizvoll­zugsanstal­t Kassel. Drittens, von der Neonazi-Szene hatte er sich schon Jahre vor der Tat gelöst; für den Verfassung­sschutz galt E. als „abgekühlt“.

Die letzte Radikalisi­erung setzt im bürgerlich­en Milieu ein, an seinem Arbeitspla­tz, wo er Markus H. kennenlern­t. Der bringt ihm das Schießen bei, stachelt E. an („Wir Deutschen müssen uns bewaffnen“) und schleppt ihn zu rechtsextr­emistische­n Veranstalt­ungen.

Das Geständnis war die dritte Aussage von E. Nach seiner Festnahme Mitte Juni 2019 hatte er gestanden, damals jedoch auf Anraten seines ersten Anwalts Markus H. nicht erwähnt. Im Januar 2020 widerruft er seine Aussage und belastet erstmals Markus H., diesmal auf Empfehlung seines zweiten Verteidige­rs. Nun also das erste Geständnis vor Gericht – und wiederum mit neuem Rechtsvert­reter. Die gestrige Version passt zu den Ermittlung­en.

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FOTO: DPA Der Angeklagte Stephan E. wird in den Gerichtssa­al geführt.

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