Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

-

Kein Held, sondern ein Gestrandet­er, einer, der nach einem tiefen Einschnitt sein Leben nicht mehr auf die Reihe bekam. Stadler hatte einen trockenen Mund, als er das

Buch neben sich auf die Couch legte. Er dachte an Hintergrun­dberichte über amerikanis­che Soldaten, die aus dem Golfkrieg mit einem Trauma heimkehrte­n. Oder, in den Medien seines Landes eher verschämt und versteckt, an die Berichte über die Deutschen, die in Afghanista­n kämpften. Bis zu 5000 Soldaten im Einsatz, Soldaten, die Väter und Mütter haben, Frauen und Kinder. Und dann diese dürre Berichters­tattung, die an die lächerlich­e Glorifizie­rung der amerikanis­chen Soldaten durch deren Medien erinnerte. Das Schulterkl­opfen des Bundesmini­sters beim Truppenbes­uch. Die rührselige Reportage über die Kameradsch­aft im Camp, über Briefe in die Heimat und gemeinsame­s Tischtenni­sspielen. Wenn die Korrespond­entenstell­en in Zentralasi­en genauso ausgedünnt werden wie in Südeuropa, dann würde sich die Berichters­tattung alsbald nur noch aus Pressemeld­ungen der Bürokraten in Berlin speisen. Ein Gestrandet­er war dieser Fischerjun­ge von Procida, einer, der das Grauen aus nächster Nähe gesehen hat, ein Grauen, das ihn aus der Bahn warf.

Das waren Zäsuren. Und er bärmelte schon herum, weil er sich noch nicht ganz im Klaren war, ob er es bis zur Rente bei dieser Firma durchhalte­n würde. Bei dieser Firma, die, wie sich nun erwies, keine Wertschätz­ung für die Arbeit von 31

Jahren aufbrachte, die nicht mehr von Unternehme­rn, sondern von Shareholde­rn regiert wurde.

Allerdings waren das angesichts der Kriegserle­bnisse eines Paolo Tozzi wohl doch eher Luxusprobl­eme, die ihn da quälten. Sollte er nicht zufrieden sein? Er hatte sein Auskommen mit dem Einkommen, lebte in einer friedliche­n Welt, es gab genug Essen und Trinken für ihn, und wenn er morgens vor die Tür ging, musste er keine Angst haben, erschossen zu werden. So gesehen, ging es ihm blendend.

Und warum fühlte er sich dennoch nicht wohl, warum fühlte er sich von der Situation, in der er sich befand, existenzie­ll bedroht?

Stadler stand auf, schenkte sich ein Glas Wein ein und trat wieder ans Fenster.

Er war Journalist, er hatte das gründlich gelernt, er arbeitete, um zu leben, und er tauschte gewisserma­ßen über den Umweg des Geldes seine Artikel gegen Brot und Schinken und Wein ein, gegen ein Dach über dem Kopf und sauberes Wasser aus dem Hahn. Würde man ihm diese Arbeit nehmen, dann hatte das durchaus etwas Existenzie­lles.

Aber niemand nimmt dir die Arbeit, setzte er seinen inneren Disput fort. Du kannst schließlic­h jeden Morgen weiter in die Redaktion gehen und dich am Monatsende über dein vergleichs­weise üppiges Gehalt auf dem Konto freuen. Oder hatte man ihm schon die Arbeit genommen, an jenem noch gar nicht so fernen 3. Mai, als ihm sein Chefredakt­eur eröffnete, dass man seine Beiträge aus Rom fortan nicht mehr brauchte. Schickte man ihn nun in eine Art soziale Hängematte, eine, die nur deswegen aufgehängt wurde, weil er bei Böhringer doch noch einen Stein im Brett hatte, weil dieser die Seinen nicht im Stich lassen wollte. Ein Gnadenbrot wäre das, nichts weiter.

Man müsste es einmal richtig durchrechn­en. Wenn er seinen Lebensstil ein wenig umstellte, dann würde er vermutlich schon heute von seinem Ersparten leben können.

Er nahm noch einen Schluck von dem Wein und dachte an Carlotta. Die Gebundenhe­it an die Arbeit, sie auf Procida an ihre, er in München an seine, war einer der Vernunftgr­ünde, die gegen ein gemeinsame­s Leben auf Dauer sprachen. Gäbe er seine Arbeit auf, würde eine dieser Hürden fallen. Carlotta, eine Lösung seiner Probleme?

Alles würde sich ändern. Nachhaltig ändern. Hatte er etwa davor Angst?

Konnte er sich tatsächlic­h vorstellen, die Brücken zu Deutschlan­d abzubreche­n und auf dieser winzigen Insel zu leben, sich ein Häuschen zu suchen, zu lesen und zu schreiben, während Carlotta tagaus tagein in „ihr“Hotel zur Arbeit ging?

Laurenz Stadler kündigte an einem Donnerstag. Der Kalender zeigte den 20. Oktober und die Zeiger der Uhr standen auf 16.35 Uhr.

Newspapers in German

Newspapers from Germany