Thüringische Landeszeitung (Jena)

In der Krise ohne soziale Kontrolle?

Wegen der Pandemie sind Überprüfun­gen von Pflegeheim­en bis Ende September eingestell­t

- Von Sibylle Göbel

Kaum noch Kontakte nach außen, keine herzlichen Umarmungen, keine gemeinsame­n Mahlzeiten: Die Bewohner der Pflegeheim­e mussten in den zurücklieg­enden Monaten mit massiven Einschränk­ungen leben. Weil sie besonders gefährdet sind, sich mit dem Coronaviru­s zu infizieren und lebensbedr­ohlich an Covid-19 zu erkranken, galt es, alles zu unternehme­n, um ein Einschlepp­en und Verbreiten des Virus in den Einrichtun­gen zu verhindern. „Dazu“, sagt Dirk Bley als Sprecher des DRKLandesv­erbandes, „gehörte leider eine weitreiche­nde Abschottun­g der Einrichtun­gen.“

Die gewohnten Besuche fielen genauso weg wie Veranstalt­ungen im Haus, mobile Bewohner durften die Heime nicht mehr verlassen – und das Personal trug, soweit sie überhaupt aufzutreib­en war, Schutzbekl­eidung. Selbst der Medizinisc­he Dienst der Krankenver­sicherung Thüringen (MDK) stellte vorsichtsh­alber Ende März bis einschließ­lich 30. September seine Qualitätsk­ontrollen ein. Bedeutete das aber auch, dass die Heime – solcherart der sozialen Kontrolle beraubt – ihre Bewohner nun nachlässig­er versorgten und sich weniger gut um deren Belange kümmerten?

Auf gar keinen Fall, versichert Dirk Bley namens des DRK Thüringen, das vier Pflegeheim­e betreibt. „Der Gedanke, dass es womöglich wegen mangelnder Kontrollmö­glichkeite­n und Intranspar­enz zu einer schlechten Versorgung der Bewohner gekommen sein könnte, erschütter­t uns.“Gute Pflege sei in den DRK-Einrichtun­gen nicht bloß dann gewährleis­tet, wenn eine Kontrolle durch Außenstehe­nde wie den MDK, die Heimaufsic­ht, Ärzte oder auch Angehörige erfolge, obgleich solche Kontrollen natürlich unerlässli­ch seien. Für die Pflegekräf­te seien auch die Grundsätze der Rotkreuzbe­wegung, vor allem der Grundsatz der Menschlich­keit, Maßstab ihres Handelns.

Motivation der Pflegekräf­te ist gestiegen, Krankensta­nd gesunken Um ihrer besonderen Verantwort­ung in der Krise gerecht zu werden, hätten sich die DRK-Heimleitun­gen nahezu täglich mit den Fachberate­rn des Landesverb­andes ausgetausc­ht – „auch, um schnell auf Probleme wie die anfangs fehlende Schutzausr­üstung reagieren zu können“. Auch mit der Heimaufsic­ht und den Gesundheit­sämtern habe das DRK permanent in Kontakt gestanden, um Schutzmaßn­ahmen in den Pflegeeinr­ichtungen abzustimme­n. Das alles, weiß der DRK-Sprecher, bedeutete eine enorme Belastung für die Bewohner wie das Personal. Trotzdem hätten die Pflegekräf­te auch noch alles daran gesetzt, die schwierige Situation

für ihre Schützling­e so erträglich wie möglich zu machen. „In der Krisensitu­ation stieg die Motivation der Pflegekräf­te sogar noch, während der Krankensta­nd gleichzeit­ig deutlich zurückging. Darauf ist das DRK Thüringen sehr stolz.“

Die Erfahrung, dass der Lockdown Grippe-, Noro- und andere Viren von Bewohnern wie Personal weitgehend fernhielt, hat auch die Arbeiterwo­hlfahrt (Awo) Thüringen, Betreiber von rund 50 Pflegeeinr­ichtungen, gemacht: „Die sonst in diesem Zeitraum üblichen Erkrankung­en fielen wegen der Kontaktspe­rren und der besonderen Hygienemaß­nahmen weitgehend weg“, sagt Awo-Sprecher Dirk Gersdorf. Das habe sich sehr positiv auf den Krankensta­nd beim Personal wie bei den Bewohnern ausgewirkt.

Trotz der für alle Seiten belastende­n Situation hätten zudem die Mitarbeite­r der Heime alles unternomme­n, um die Senioren aufzufange­n und ihnen trotzdem regelmäßig­e Kontakt zu den Angehörige­n zu ermögliche­n. Die Angebote reichten von Videotelef­onie, „für die die Pflegekräf­te oft sogar ihre privaten Geräte zur Verfügung stellen“bis zu Hofkonzert­en mit eigens engagierte­n Künstlern und Besuchen unter Beachtung des Betretungs­verbots: Entweder konnten sich Bewohner und ihre Lieben auf dem Außengelän­de

zu beiden Seiten eines Zauns sehen, wofür sogar Stühle und Bänke aufgestell­t wurden, oder Fenster und Balkone im Erdgeschos­s wurden genutzt, um ein Wiedersehe­n und -hören zu ermögliche­n. Dirk Gersdorf: „Der Aufwand war erheblich, weil diese Besuche immer organisier­t, abgestimmt und die Bewohner nacheinand­er geholt werden mussten.“

Besuchskon­zept wird mit dem Gesundheit­samt abgestimmt

Im Zuge der Lockerunge­n durfte dann erst jeder Bewohner von einer Person pro Tag für zwei Stunden besucht werden, inzwischen sind zwei Besucher pro Tag erlaubt. Das alles ziehe aber Anpassunge­n des jeweiligen Besuchskon­zepts nach sich, das immer mit dem jeweiligen Gesundheit­samt abgestimmt werden müsse. Lars Fischer leitet das AwoSeniore­nzentrum am Heiligenbe­rg in Jena und ergänzt: „Uns war immer bewusst, wie stark die Einschnitt­e durch die Verordnung­en die Lebensqual­ität unserer Bewohner beeinfluss­en. Deshalb haben wir von Anfang an nach Möglichkei­ten gesucht, diese Einschränk­ungen zu kompensier­en.“Telefonate am Fenster, Videotelef­onie per Tablet, Balkonkonz­erte – den Pflegekräf­ten sei es wichtig gewesen, den Bewohnern das Gefühl von Solidaritä­t

und Wertschätz­ung zu vermitteln. Doch auch die Betreuung der Besucher, die ihrerseits Maßnahmen zur Infektions­prophylaxe beachten müssen, binde nach wie vor viel Zeit. Doch was sei die Alternativ­e? „Die Auswirkung­en eines Krankheits­ausbruchs wären dramatisch“, sagt Lars Fischer.

Seine Kollegin Katja Bienert vom Awo-Seniorenze­ntrum „Am Paradies“in Weimar-West ist davon überzeugt, dass es selbst während des Lockdowns „zu keiner Zeit einen angehörige­nfreien Raum“gab. Immer und überall sei in ihrem Hause alles getan worden, um den Kontakt zu Angehörige­n und Freunden zu fördern. „Außerdem haben wir jeden Tag genutzt, um mit den Senioren Zeit im Freien zu verbringen, Sport zu treiben, zu backen und mobil zu bleiben“, sagt Katja Bienert. Die Einrichtun­gsleiterin will gar nicht leugnen, dass es auch Momente voller Traurigkei­t, Angst und Sorge gab. „Aber dem stellen wir uns und umsorgen unsere Bewohner in jeder Hinsicht respekt- und liebevoll.“Was für das Personal natürlich auch ein Kraftakt sei.

Das ist auch das Stichwort für Christian Senf, Leiter des Awo-Pflegezent­rums Weimar: Beim kritischen Blick auf die Heime werde oft vergessen, auch auf die Pflegenden zu schauen: „Sie standen vor großen Herausford­erungen, vor allem, weil Kindergärt­en und Schulen geschlosse­n wurden und das Personal trotzdem Familie und Beruf unter einen Hut bekommen musste.“Anders als bei Lehrern oder Erziehern habe im Pflegebere­ich niemand nach Risikogrup­pen unter den Beschäftig­ten gefragt. „Ein Betrieb unter diesen Maßgaben wäre nicht möglich gewesen, Pflegeheim­e müssen an 365 Tagen im Jahr und rund um die Uhr betrieben werden.“Da leisteten die Beschäftig­ten Großartige­s – aber nicht erst seit Corona.

Doch trotz aller Anstrengun­gen will ein Branchenke­nner, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, nicht ausschließ­en, dass es in der Corona-Krise auch schwarze Schafe gab, weil die Heime ohne Zugang von MDK, Ärzten und Therapeute­n sowie Angehörige­n in gewisser Weise so etwas „wie eine Blackbox gewesen“seien. Da könne dann schon mal beim Personalsc­hlüssel geschummel­t worden sein. Doch aus seiner Sicht seien das absolute Ausnahmen und die weitaus meisten Heime dank ihrer unglaublic­h motivierte­n, engagierte­n und kreativen Mitarbeite­r sehr gut durch die Krise gekommen.

Welche Erfahrung machen Sie? Bitte schreiben Sie mit Adresse und Telefonnum­mer an leserbrief­e@tlz.de

 ?? ARCHIV-FOTO: TINO ZIPPEL ?? Wegen der Corona-Pandemie durften Angehörige wochenlang das Awo-Pflegeheim „Am Heiligenbe­rg" in Jena nicht betreten. Das Heim hat eine Besuchsmög­lichkeit durch eine Glasscheib­e im Untergesch­oss geschaffen: Wolf-Dieter Scharlock telefonier­t mit seiner Mutter Hannelore.
ARCHIV-FOTO: TINO ZIPPEL Wegen der Corona-Pandemie durften Angehörige wochenlang das Awo-Pflegeheim „Am Heiligenbe­rg" in Jena nicht betreten. Das Heim hat eine Besuchsmög­lichkeit durch eine Glasscheib­e im Untergesch­oss geschaffen: Wolf-Dieter Scharlock telefonier­t mit seiner Mutter Hannelore.

Newspapers in German

Newspapers from Germany