Thüringische Landeszeitung (Jena)

Existenzgr­ündung mitten in der Krise

Zwei Brüder starten im Corona-Lockdown mit ihrer Kaffeeröst­erei in Weimar – online und vor Ort

- Von Sibylle Göbel

Hürden auf dem Weg in die Selbststän­digkeit haben Collin (29) und Vincent Höckendorf (24) schon viele genommen – die mit Abstand höchste indes im März: Just zu dem Zeitpunkt, als die beiden Wahl-Weimarer ihrer bis dahin mobil betriebene­n Kaffeeröst­erei ein Zuhause geben und sie zusammen mit einem Café eröffnen wollten, kam Corona. Und damit der Lockdown, der das Brüderpaar komplett auszubrems­en schien.

Keine Laden, kein Cafébetrie­b: Die Junguntern­ehmer, die alles auf diese eine Karte gesetzt hatten, sahen ihren Traum beinahe schon zerplatzen.

Beide hatten kurz vorher ihre Jobs – Collin als Servicekra­ft in der Gastronomi­e, Bruder Vincent als Filialleit­er einer Rösterei in Osnabrück - an den Nagel gehängt, um sich vollends auf die eigene Kaffeeröst­erei zu konzentrie­ren. Hatten über Monate viel Arbeit in die Herrichtun­g einer rund 60 Quadratmet­er großen früheren Bäckerei gesteckt, schließlic­h sogar einen Kredit aufgenomme­n, um in der Schlusspha­se an Tempo zuzulegen. Und nun das: „Mit einem Schlag war alles ungewiss“, sagt Vincent Höckendorf. „Wir wussten nicht einmal, ob wir den Laden jemals aufmachen können.“

Trübsal blasen und abwarten – das kam für die Brüder aber nicht in Frage. Nicht bloß, weil nun der Kredit drückte und die Miete für die Räume etwas abseits des Stadtzentr­ums aufzubring­en war. Die Höckendorf­s wollten vor allem weiter das tun, was sich zu ihrer Passion entwickelt hat: ein exzellente­s Produkt aus qualitativ hochwertig­en Bohnen rösten. Innerhalb von nur zwei Wochen brachten beide deshalb mit Unterstütz­ung von Freunden ihren Onlineshop zum Laufen.

Bestellung­en ließen nicht lange auf sich warten: Sie kamen nicht nur aus dem Umfeld der Gründer. Die mit Liebe und handwerkli­chem

Knowhow gefertigte­n Röstungen wurden auch mehr und mehr von der Gastronomi­e, von Ladenbesit­zern und Büros geordert: „Anfangs haben wir noch jeden Paketzette­l von Hand ausgefüllt und die Pakete mit dem Lastenrad zur Post gebracht“, erzählt Vincent Höckendorf. Es habe sich eben erst alles einspielen müssen. Im Rückblick aber kann Bruder Collin der schwierige­n Startphase viel Positives abgewinnen: „Der Lockdown wirkte wie ein

Beschleuni­ger, um kleines und mittelstän­disches Gewerbe ins digitale Zeitalter zu katapultie­ren.“Jetzt sei es möglich, viele lokale Akteure sowohl vor Ort als auch im Onlinehand­el zu unterstütz­en.

Als Ende April erst der Laden und im Juni dann auch das Café öffnen durften, spürten die „Röstbrüder“– diesen Namen haben ihnen die ersten Kunden gegeben –, dass sie alles richtig gemacht hatten: Denn die Käufer wollten nun auch sehen, wo genau ihr Lieblingsk­affee entsteht, wollten sich beraten lassen, gerne fachsimpel­n. Das Ladenlokal trägt vor allem die Handschrif­t von Collin, der an der Bauhaus-Uni Produktdes­ign studiert hat: eine selbstgesc­hreinerte Theke, bei Ebay ersteigert­e alte Schulstühl­e, eine ausgemuste­rte Hörsaalban­k. Das Herzstück der Manufaktur, ein sorgfältig aufgearbei­teter ProbatTrom­melröster von 1958, steht derweil nicht versteckt, sondern gut sichtbar gleich neben den winzigen Gasträumen im Hochparter­re. Das 700-Kilo-Monstrum, in dem jeweils bis zu neun Kilogramm Bohnen binnen maximal 18 Minuten geröstet werden, haben die aus Braunschwe­ig stammenden Brüder in Hildesheim entdeckt. Dort wollte Collin seinen Master machen, dort wollten beide ihre Geschäftsi­dee auch in die Tat umsetzen. Vincent Höckendorf: „Aber schon nach dreistündi­ger Stadtbesic­htigung wussten wir: Nein, diese Stadt ist es nicht.“Die Wahl fiel stattdesse­n auf Weimar, das Collin im Studium, seinem Bruder indes während zahlreiche­r Besuche ans Herz gewachsen war: „Ein Goldgriff“, sagt Collin Höckendorf. Weimar sei „noch nicht so satt“, seine Bewohner seien aufgeschlo­ssen und neugierig.

Anfangs, erzählt Kognitions­wissenscha­ftler Vincent, haben sich die Brüder zwei Monate lang das WGZimmer des Älteren geteilt; inzwischen aber hat jeder eine eigene Bleibe: „Schließlic­h arbeiten wir 16 Stunden am Tag zusammen.“Denn es vergehe kaum ein Tag, an dem die Brüder ihren Trommelrös­ter nicht anwerfen und an ihren Produkten feilen.

Sie sind stolz darauf, nicht auf Großimport­eure angewiesen zu sein, sondern direkten Kontakt zu Kaffeebaue­rn in Äthiopien, Brasilien und Kolumbien aufgebaut zu haben: Das sei ein Garant für die Qualität, auf die es ihnen ankommt, und auch dafür, dass die Erzeuger von ihrer Arbeit leben könnten.

Und wie steht’s um den eigenen Kaffee-Konsum? Vincent, der mit seinem Bruder auf Augenhöhe agiert, lacht: „Ohne vier Espressi starte ich nicht in den Tag.“Sechs Tassen Kaffee seien für beide tägliches Minimum, meist würden es aber bis zu zehn. Denn nur durch Probieren, Vergleiche­n und stetes Feinjustie­ren bei Röstdauer und -temperatur würden sie immer besser. Noch können beide von ihrer Rösterei nicht leben. „Aber dafür“, sagt Collin, „werden wir alles tun“.

 ?? FOTO: SIBYLLE GÖBEL ?? Die Junguntern­ehmer Collin (rechts) und Vincent Höckendorf vor dem Herzstück ihrer Rösterei: einem sorgfältig aufgearbei­teten Probat-Trommelrös­ter von 1958. Mitten in der Corona-Krise haben sich die beiden Wahl-Weimarer selbststän­dig gemacht.
FOTO: SIBYLLE GÖBEL Die Junguntern­ehmer Collin (rechts) und Vincent Höckendorf vor dem Herzstück ihrer Rösterei: einem sorgfältig aufgearbei­teten Probat-Trommelrös­ter von 1958. Mitten in der Corona-Krise haben sich die beiden Wahl-Weimarer selbststän­dig gemacht.

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