Thüringische Landeszeitung (Jena)
Bußgeld-Chaos: Stürzt Scheuer?
Streit um ungültige Verschärfung des Bußgeldkatalogs kratzt zunehmend am Image des Verkehrsministers. Autofahrern drohen millionenfach Fahrverbote
Tausende Raser haben in den vergangenen Wochen ihre Führerscheine zurückerhalten. Das verdanken sie einem Formfehler, der im Haus von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) bei der Neufassung des Bußgeldkatalogs unterlaufen ist. Anfang Juli musste das Regelwerk außer Kraft gesetzt werden. Um eine Neuregelung tobt seither ein Streit zwischen Bund und Ländern. Auch die Kritik an Scheuer selbst wird nach der verpatzten Pkw-Maut immer lauter.
Dabei sollte mit der Ende April in Kraft getretenen Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO) alles besser werden. Im Kern ging es um die Sicherheit der Radfahrer. Doch die Länder hängten im Bundesrat eine Verschärfung des Bußgeldkatalogs an – es sollte einen Monat Fahrverbot innerorts ab 21 und außerorts ab 26 Kilometern pro Stunde zu viel geben. Bisher lagen die Grenzen bei 31 und 41 km/h. Wegen eines fehlenden Zitats – in der Verordnung fehlte der Bezug auf das Straßenverkehrsgesetz – kippte die Regelung und die Behörden gaben Führerscheine zurück.
„Wir haben jetzt einen ideologischen Grabenkampf.“Anke Rehlinger (SPD), Saar-Verkehrsministerin und Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz
FDP-Abgeordnete um den Verkehrsexperten Oliver Luksic haben im Bundesverkehrsministerium Zahlen zur Raserei angefragt. Die Antwort liegt unserer Redaktion vor. Bliebe es bei den neuen Regeln und änderten die Deutschen ihr Fahrverhalten nicht, würde es millionenfach Fahrverbote hageln.
NRW-Minister schlägt Kompromiss vor
Allein außerorts registrierten die Behörden 2018 und 2019 insgesamt 997.423 beziehungsweise 930.019 Autofahrer, die 26 bis 40 Stundenkilometer zu viel auf dem Tacho hatten – dafür gibt es nach den neuen Regeln einen Monat Fahrverbot.
Hinzu kommen Verstöße innerorts, für die keine genauen Zahlen vorliegen. Es dürften jedoch mehrere Hunderttausend sein. Im Bereich von 26 bis 30 km/h zu viel gab es in den beiden Jahren 151.424 beziehungsweise 148.341 Verstöße – die neuen Regeln sehen ein Fahrverbot innerorts aber bereits ab 21 Kilometern pro Stunde zu viel vor. Die Zahl einmonatiger Fahrverbote würde sich damit vervielfachen. 2018 und
2019 kassierte die Polizei 423.386 und 416.269 Mal Fahrerlaubnisse für diesen Zeitraum ein. Luksic, verkehrspolitischer Sprecher der FDP im Bundestag, nennt die neue Straßenverkehrsordnung daher „eine Führerscheinfalle sondergleichen“. Die drohende Vervielfachung der Fahrverbote nennt er „beispiellos und völlig unverhältnismäßig“.
Auf dem Tisch liegt jetzt ein Kompromissvorschlag von NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU): Innerorts könne in Tempo30-Zonen vor Schulen und Kindergärten bei 21 km/h zu viel ein Fahrverbot verhängt werden, außerorts in Autobahnbaustellen ab 26 Stundenkilometern zu viel. Zudem sollen die Bußgelder steigen.
Genauso habe es bei einer Videokonferenz am Mittwoch aber Fürsprecher für die Position der Grünen gegeben, die lediglich den Formfehler korrigieren wollen. Scheuer wollte die Regeln ursprünglich auf den alten Stand zurückdrehen und im Gegenzug das Bußgeld leicht anheben.
Bewegung gibt es in der Sache bislang kaum. Anke Rehlinger, Verkehrsministerin im Saarland und Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz, äußert sich gegenüber unserer Redaktion ernüchtert: „Wir haben jetzt einen ideologischen
Grabenkampf, der mehr mit parteipolitischer Inszenierung zu tun hat als mit einer sachlichen Debatte.“Die SPD-Politikerin wirft Scheuer vor, er habe sich diese Situation „selbst eingebrockt, indem er inhaltliche Änderungen vorgelegt hat, statt schlicht Rechtsunsicherheiten zu heilen“. Rehlinger sieht alle Seiten in der Pflicht, schnell für Klarheit und Rechtssicherheit zu sorgen.
Trotz weit entfernter Positionen und der politischen Sommerpause – im September soll eine rechtssichere Lösung für die Straßenverkehrsordnung vorliegen.
Scheuer verliert Rückhalt auch in der eigenen Partei
Längst dreht sich die Diskussion auch um Minister Scheuer selbst. Der Formfehler reiht sich ein in eine Vielzahl von Missgeschicken. CSUChef Markus Söder sagte im ARD-„Sommerinterview“, Scheuer werde „zum Teil zu Recht, zum Teil auch ein bisschen überzogen immer wieder jeden Tag unter Beschuss genommen“. So dürfe das Desaster um die deutsche Pkw-Maut nicht allein Scheuer angehängt werden – dies habe die ganze Bundesregierung mitgetragen. Scheuers jüngster Vorstoß für eine europäische Pkw-Maut sei jedoch unglücklich gelaufen. Und nun stehe er vor der schwierigen Aufgabe, „die ärgerliche Sache mit der Straßenverkehrsordnung“wieder hinzubiegen.