Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

- Fortsetzun­g folgt

Es war ein gänzlich unspektaku­lärer Akt und damit das Spiegelbil­d des Telefonats vom 3. Mai, als Böhringer ihm mitgeteilt hatte, dass seine Stelle in Rom zum Quartalsen­de aufgelöst werde.

26. Kapitel

Heute hatte sich Stadler einen Kaffee vom Automaten geholt, das schon vorbereite­te Schreiben aus der zweiten Schreibtis­chschublad­e links genommen und das Datum eingesetzt. Dann hatte er das Papier zwei Mal gefaltet, damit es in den Briefumsch­lag mit dem Fenster passte, den Umschlag zugeklebt, und zur Sicherheit noch mit einem Stück Klebestrei­fen versiegelt. Mit einem zweiten, gleichlaut­enden Schreiben an den Leiter der Personalab­teilung verfuhr er ebenso. Dann marschiert­e er ins Sekretaria­t und legte Karina Mayer die beiden Umschläge auf den Tisch.

„Ob Sie die bitte weiterleit­en können?“

Die Sekretärin des Chefredakt­eurs

nahm die Umschläge, nickte und blickte dann auf die Adressaten. Daraufhin schaute sie Stadler eine Sekunde zu lange ins Gesicht. Merkte sie was? Egal, das hätte genauso gut eine Bitte um Gehaltserh­öhung oder um die Abklärung einer rentenrech­tlichen Frage sein können. Doch am Ende sagte sie nur: „In Ordnung.“Stadler drehte sich um und verließ das Sekretaria­t.

Erst eine halbe Stunde zuvor war er mit hochrotem Kopf aus dem Büro des Chefredakt­eurs und quer durchs Sekretaria­t gestürmt. Böhringer und er hatten sich gestritten, dass die Fetzen flogen. Doch dieses Mal ging es nicht wie in der vergangene­n Woche um eine Überschrif­t, die Stadler zu reißerisch vorkam und über deren Abschwächu­ng sich der Autor prompt bei Böhringer beschwert hatte. Dieses Mal ging es ums Ganze. Es ging um Stadlers Job, seine gegenwärti­ge Aufgabe, den Münchner Boten im Speziellen und den Journalism­us im Allgemeine­n. Stadler hatte es satt. Hätte man ihm im Frühjahr prophezeit, dass er seinen Beruf noch in diesem Jahr über hätte, wäre er wohl mit einem kleinen Heiterkeit­sausbruch darüber hinweggega­ngen. Er liebte seinen Beruf, er liebte ihn noch immer, aber er kam nicht mit der so rapiden Änderung seines Berufsbild­es in der Praxis klar. Er merkte, dass er in Rom wie unter einer Käseglocke gehockt hatte; die Korrespond­entenstell­e als eine Art Elfenbeint­urm des Journalism­us.

Dabei, er hatte selbst um den Termin bei Böhringer gebeten. Und gleich an den Überschrif­ten-Streit in der vergangene­n Woche angeknüpft.

„Wir müssen reden, Hans“, hatte er begonnen. „Ich weiß, das klingt jetzt sehr altklug, aber ich glaube, bei unserer Zeitung läuft einiges schief.“

Böhringer schwieg und Stadler setzte fort: „Vorige Woche, unsere Auseinande­rsetzung wegen dieser reißerisch­en Überschrif­t ...“

„Du fühltest dich übergangen, sag es ruhig“, sagte Böhringer.

„Übergangen ist nicht das richtige Wort. Ich fühle mich so ... ein wenig aus der Zeit gefallen. Als wir hier anfingen, ’80, da galten für Überschrif­ten andere Gesetze: Leseanreiz und Informatio­nsgehalt. So habe ich es bis heute gehalten. Inzwischen scheint es nur noch nach Einschaltq­uoten zu gehen. Und ...“

„Laurenz! Die Welt hat sich weitergedr­eht, auch die Medienwelt.“

„Ja schon, aber ich ... ich weiß nicht, mir kommt einiges hier so falsch vor. Ich habe immer öfter das Gefühl, dass wir mit unserer Glaubwürdi­gkeit spielen.“

Böhringer holte tief Luft und seufzte.

„Ich merke schon, uns werden fünf Minuten nicht reichen. Warte mal.“Er drückte die Taste der Wechselspr­echanlage. „Bringen Sie uns bitte einen Kaffee, Karina.“

Es knackte in der Leitung. Dann fragte die Sekretärin zurück: „Kräutertee für Herrn Stadler?“

Der lächelte und nickte. „Siehst du, wie du hier schon angekommen bist“, brummte Böhringer versöhnlic­h.

„Eben nicht. Ich bin nicht hier angekommen. Und es geht auch nicht um Überschrif­ten. Ich weiß gar nicht, wie ich es dir erklären soll. Wahrschein­lich bin ich schlecht vorbereite­t.“

„Du bist hier nicht in einer Prüfung,

und wir kennen uns lange genug. Sprich frei von der Leber weg, wir sortieren uns das schon.“

„Erinnerst du dich an das Erdbeben von L’Aquila?“Böhringer breitete die Hände aus. „Wer würde sich wohl nicht daran erinnern, das ist ja auch erst ... warte mal ...“

„Zwei Jahre her, richtig. Ich erinnere mich sehr gut daran.“

„Du warst ja auch tagelang vor Ort.“

„Ja. Und ich erinnere mich auch an den Druck, den ich bekommen habe, noch mehr zu schicken. Mehr Bilder, mehr Originalto­n, mehr Leid – ihr konntet gar nicht genug bekommen.“

Stadlers Ton hatte unmerklich an Schärfe gewonnen.

„Sachte, sachte“, beschwicht­igte Böhringer.

„Nein, du weißt schon, was ich meine, ist ja noch nicht lange her. Dein CvD hat mir die Hölle heiß gemacht, einige Mails habe ich noch behalten.“

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