Thüringische Landeszeitung (Jena)
Kempf warnt vor Grenzschließungen
Corona ist nicht nur Statistik – hinter den Zahlen stehen Schicksale. Wie das von Familie Stephani
Angesichts steigender Infektionszahlen hat der Präsident des Industrieverbandes BDI, Dieter Kempf, vor Grenzschließungen gewarnt. „Geschlossene Grenzen sind für den freien Waren- und Personenverkehr und damit die produzierende Industrie ein Menetekel mit dramatischen Folgen für die gesamte Volkswirtschaft“, sagte Kempf dieser Zeitung. Es sei sinnvoller, regionale Schutzzonen um Infektionszentren aufzubauen. Das Einhalten der Hygiene- und Abstandsregeln sowie der Maskenschutz blieben zentral.
Das Schild hängt noch. „J. Stephani Anlagenbau“steht da, rot auf weißem Grund. Ein kleines Schild an der Steinwand eines alten Bauernhauses in einem Dorf in der Voreifel, neben einem großen grünen Holztor. Viel Fachwerk gibt es hier und einen Bach. Es ist ein idyllisches Plätzchen. Nur die Klingel des Eismanns und ein paar spielende Kinder unterbrechen an diesem Sommernachmittag die Stille.
Doch für die Familie Stephani ist die Idylle Vergangenheit. Denn den Mann, dessen Name auf dem Schild steht, gibt es nicht mehr. Jochen Stephani ist tot. Er ist einer von rund 9200 Menschen in Deutschland, die am Corona-Virus gestorben sind. Links neben dem großen Tor öffnet sich eine kleinere Tür. Soledad Stephani lächelt und streckt, Corona-konform, zu Begrüßung ihren Ellbogen zur Begrüßung hin. Sie war mit Jochen Stephani verheiratet, fast 33 Jahre lang. Sie und ihre Tochter Rebecca wollen erzählen, wie sie ihren Ehemann und Vater verloren haben an das Virus. Zum Gespräch bittet Soledad Stephani in einen Raum, wo man mit ausreichend Abstand um einen kleinen Kaffeetisch sitzen kann. Drinnen angekommen, reicht sie als erstes Desinfektionsmittel, für die Hände. Sie ist immer noch vorsichtig. Sie weiß ja, was passieren kann.
Ein Abschied durch die Glasscheibe Es begann Anfang April. Bei Soledad Stephani ging es mit Halsschmerzen los – „ich dachte, weil ich so viel rede.“Ihr Kiefer wurde taub, sie hatte Schmerzen, wie in einem Nebel bewegte sie sich durch das Haus, so erzählt sie es rückblickend. Rebecca, 27 und gerade zuhause, weil die Praktikumsphase an der Uni Corona-bedingt ausfiel, lag mit Gelenkschmerzen im Bett. Bei Jochen Stephani war es ein Fieber, das einfach nicht weggehen wollte. Dabei war der 62-Jährige eigentlich gesund, sagen Frau und Tochter. Ein bisschen Übergewicht, ein bisschen Bluthochdruck. Aber weit entfernt von fragil. Doch das Fieber geht nicht weg. Irgendwann sagt Jochen Stephani, er will ins Krankenhaus. Es ist der 14. April, ein Tag vor Soledads 56. Geburtstag, als der Rettungswagen kommt. Während der Vater im Krankenhaus liegt, beginnt mit dem Testergebnis für Soledad und Rebecca die Uhr zu laufen: 14 Tage Quarantäne. Bloß nicht rausgehen, mahnt das Gesundheitsamt, schon gar nicht in die Klinik. Am Tag, als der Vater ins Krankenhaus kommt, telefonieren sie noch. Doch schon am nächsten Abend wird Jochen Stephani intubiert. Wie es ihm geht, erfährt die Familie nur noch vom medizinischen Personal. „Wir haben ständig im Krankenhaus angerufen“, sagt Soledad. Zwei Wochen lang ist Jochen Stephanis Zustand stabil, zwei Wochen bangt und hofft seine Familie.
Als Soledad und Rebecca nach dem Ende ihrer Quarantäne endlich selbst ins Krankenhaus können, haben die Ärzte schlechte Nachrichten. In der Nacht hat sich sein Zustand verschlechtert, es sieht nicht gut aus. „Wir konnten ihn nur durch eine Scheibe sehen“, sagt Soledad. Das Zimmer betreten, den Kranken vielleicht sogar umarmen, ist ausgeschlossen. Mutter und Tochter fahren wieder nach Hause – und sind noch nicht lange da, als das Krankenhaus erneut anruft. Sie sollen zurückkommen, Abschied nehmen. „Und dann nach Hause. ‚Warten Sie zuhause, wir sagen Bescheid, wenn er tot ist.‘“Rebeccas älterer Bruder, der in einer anderen Stadt wohnt, kann seinen Vater nicht mehr sehen.
Er fehlt so sehr
Es ist keine Geschichte, die Soledad Stephani erzählen kann, ohne zu weinen. Der Schmerz ist frisch, er sitzt dicht unter der Oberfläche. Stephani ist ein fröhlicher, ein offener Mensch, trotz allem. Sie lacht laut, und viel. Doch eine lustige Anekdote über den Verstorbenen kann mit einem Lachen beginnen und einer brechenden Stimme enden.
Aber erzählen will die Familie. Dass Jochen Stephani den „Covid19 Kampf“verloren hat, steht in der ersten Zeile der Todesanzeige. „Ich wollte am liebsten schreien, damit es alle wissen“, sagt Soledad. Weil so viele Leute es immer noch nicht ernst nahmen. Und weil Jochen Stephani und die anderen Toten im Stillen gestorben sind. Mehr als
9000 Menschen, einfach weg. Die meisten von ihnen starben im März und April, als das Land zuhause blieb. Als weniger auffiel, wenn einzelne fehlten, weil sowieso alle hinter Mauern verschwunden waren. Während das Land erst den Atem anhielt und sich dann dafür feierte, so vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen zu sein, versuchten tausende Familien mit dem Verlust umzugehen.
In Vlatten übernahmen Rebecca Stephani und ihr älterer Bruder den Papierkram, der anfällt, wenn ein Mensch plötzlich verstirbt. „Ohne Testament läuft gar nichts, das wissen wir jetzt“, sagt sie trocken. Soledad Stephani versuchte zu verarbeiten, dass der Mann, mit dem sie fast
33 Jahre verheiratet war, nicht mehr da ist. „Das Fundament ist weg“, sagt Soledad. Das Dorf habe sie aufgefangen, berichten Mutter und Tochter. Nachbarn hätten eingekauft, Freunde und Bekannte immer wieder angerufen. „Aber von der Stadt, vom Kreis, vom Gesundheitsamt? Die rufen nicht an, da kommt nichts“, sagt Stephani. Dabei hätte es schon geholfen, wenn jemand gefragt hätte, wie es geht, sagt Soledad. Auch das anhaltende Schweigen zu den Toten schmerzt die Familie. „Im Fernsehen wird die Zahl der Menschen verlesen, die gestorben sind, und das war’s“, sagt Rebecca. „Nicht mal eine Schweigeminute, oder irgendwas.“Keine Staatstrauer wie in Spanien, keine tröstenden Worte vom Bundespräsidenten, keine Anlaufstellen für die Hinterbliebenen. „Das ist ein Versagen“, sagt die 27-Jährige.
Es ist Abend geworden in Vlatten, in der Luft hängt der Rauch von brennenden Grillfeuern. Vor vielen Häusern sitzen kleine Grüppchen in der Sonne. Sie grüßen die Stephanis, wenn sie vorbeikommen. Soledad kennt praktisch jeden. Bei einer Gruppe von Frauen hält sie an, um Hallo zu sagen. Soledad Stephani streckt ihren Ellbogen aus, zur Begrüßung. Die Runde lacht. Jemand sagt, „Wir haben keine Angst.“