Thüringische Landeszeitung (Jena)
Ein Weltbürger wird 80
Gartenbauexperte Niels Lund Chrestensen hat die Wirtschaftswende in Thüringen mitgeprägt
Afrika, die Region der heutigen Ukraine, nach der Wende Bonn und immer wieder England: Niels Lund Chrestensen blickt auf ein bewegtes Leben zurück, wenn er diesen Sonntag im Kreis der Familie seinen 80. Geburtstag begeht. Sein Name ist ebenso eng mit Erfurt wie mit der Samen- und Pflanzenzucht GmbH verbunden, einem Familienunternehmen das seit mehr als
150 Jahren die Gartenbautradition der Stadt entscheidend mitgeprägt und heute wieder seinen festen Platz auf dem Weltmarkt hat.
Als die DDR den Sohn mutmaßlicher Kapitalisten in den 1950er-Jahren nach seiner Gärtnerlehre vor die Wahl stellt, Uranbergbau oder kasernierte Volkspolizei, packt er ein Köfferchen und fährt mit dem Zug nach Berlin und weiter über Frankfurt/Main zu Freunden der Familie nach England. „Ich sprach damals keine 20 Worte englisch“, erinnert er sich.
Umso mehr ist dem 80-Jährigen noch heute der Stolz anzumerken, wenn er erzählt, wie er in Leicester sein Abitur abgelegt und dass sein Englisch keinen deutschen Akzent habe. Doch der Grenzgänger mit Erfurter Wurzeln kommt zurück in die DDR, um den elterlichen Betrieb zu unterstützen. An der Humboldt-Universität Berlin studiert er Gartenbau und erwirbt das Diplom mit Auszeichnung.
1990 gelingt die Reprivatisierung als einer der ersten Betriebe
Immer wieder legt die DDR-Führung dem jungen Mann aus bürgerlichen Verhältnissen Steine in den Weg. Vor Beginn des Studiums muss er erst drei Monate in Jena an die Arbeiter- und Bauern-Fakultät. Als die Universität ihm das Diplom verweigert, bewirkt erst ein Protest seiner Familie, dass der Rektor persönlich nach Erfurt kommt, um das Zeugnis zu überreichen.
Diese Begebenheiten sind umso erstaunlicher, nutzte die DDR-FühCornel rung andererseits das Wissen und die Sprachkenntnisse des Gartenbauexperten, um in Afrika oder auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, Landwirtschaftsprojekte voranzutreiben. In einer Musterkolchose zeigt der Deutsche sowjetischen Bauern, wie sorgsamer Umgang mit Technik, Ressourcen und Getreide die Ernteergebnisse steigert. Nach der Enteignung 1972 darf Chrestensen
im nun „volkseigenen Betrieb“in leitender Position verbleiben und ist fortan in Quedlinburg für die „Sonderkulturen“zuständig, die gartenbauliche Saatgutproduktion. Bis zu 6000 unterschiedliche Pflanzen wie Kräuter, Gemüse und Blumen werden unter seiner Verantwortung gezüchtet.
Mit der Wende stehen der 50-jährige Niels Lund und sein Bruder
Niels vor ihrer größten Herausforderung. Sie schaffen am 25. Juni 1990 die Reprivatisierung des Familienbetriebes als eines der ersten Unternehmen in Thüringen.
Die Brüder übernehmen die Geschäftsführung der Samen- und Pflanzenzucht GmbH. „Vieles lag damals im Argen, anderes funktionierte noch“, erinnert sich Niels Lund Chrestensen. Im Dezember des gleichen Jahres wird der Unternehmer zum Präsidenten der neu gebildeten Industrie- und Handelskammer Erfurt (IHK) gewählt und hilft so weiteren Firmen auf ihrem Weg in die Marktwirtschaft.
Beraterrunde zum Aufbau Ost im Kanzlerbungalow
Als vernehmliche Stimme des Ostens reist er nach der Wende auch alle fünf bis sechs Wochen nach Bonn, wenn sich die Beraterrunde zum Aufbau Ost im Kanzlerbungalow mit Helmut Kohl (CDU) trifft. Seine Sitznachbarin bei diesen oft nächtlichen Besprechungen ist Treuhandchefin Birgit Breuel.
Heute wirkt Niels Lund Chrestensen zufrieden. Der Neustart des Familienunternehmens ist gelungen. Sohn Frederick hat 2003 die alleinige Geschäftsführung übernommen. Bis vor wenigen Jahren schaute der Jubilar noch mehrmals die Woche am Firmensitz im „Blühenden Borntal“vorbei. Inzwischen hat sich der Gesellschafter zurückgezogen.
Trotzdem, so scheint es, weiß er noch immer genau, wie es um die Firma steht. Erfreut erzählt er, dass während der Corona-Krise eine deutliche Umsatzsteigerung erwirtschaftet werden konnte. „Die Menschen haben sich intensiv ihren Gärten gewidmet und verstärkt Pflanzen bestellt.“Der Ansturm sei so groß gewesen, dass sogar Ruheständler aushelfen mussten.
Und der Jubilar hat noch Pläne: Die leider abgesagte große Feier möchte er im kommenden Jahr nachholen, wenn er als Geburtstag das Alter 80+1 begeht.