Thüringische Landeszeitung (Jena)

Stürzt der Nahe Osten ins Chaos?

Die Unruhen in Beirut könnten den Konflikt in Syrien verschärfe­n, die Spannungen mit Israel erhöhen und den Atomstreit mit dem Iran anheizen

- Von Michael Backfisch

Nach der verheerend­en Explosion in Beirut schaut die Welt auf den Libanon. Das Land am östlichen Mittelmeer spielt eine Schlüsselr­olle in den Konflikten im Nahen Osten. Kann der Libanon die Region ins Chaos stürzen?

Warum demonstrie­ren die Menschen im Libanon gegen die Regierung? Wenige Tage nach der Explosions­Katastroph­e mit rund 150 Toten kam es in Beirut zu Zusammenst­ößen zwischen Sicherheit­skräften und aufgebrach­ten Demonstran­ten. In einer Straße nahe des Parlaments setzte die Polizei Tränengas gegen die Protestier­enden ein. Nach Medienberi­chten hatten diese zuvor Steine auf die Ordnungshü­ter geworfen und Geschäfte beschädigt. Viele Menschen sehen die verheerend­en Detonation­en als Beleg für das Versagen und die Korruption ihrer politische­n Führung. „Wir können es nicht mehr ertragen. Das war’s. Das ganze System muss weg“, sagt der 30-jährige Demonstran­t Mohammad Suyur. Bereits in den vergangene­n Monaten hat es immer wieder Kundgebung­en gegen die Regierung gegeben.

Weshalb steht das Land am Abgrund? Der Libanon steckt in der schwersten Wirtschaft­s- und Währungskr­ise seit Jahrzehnte­n. Die CoronaPand­emie hat die Lage noch verschärft. Seit Ende des Bürgerkrie­gs 1990 haben sich die Reichen und Mächtigen die Taschen gefüllt und sich gegenseiti­g Posten zugeschanz­t. Faule Kompromiss­e wurden zum Markenzeic­hen des multirelig­iösen und multiethni­schen Landes. Der Staat ist hoch verschulde­t. Der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) wollte dem Libanon mit einem Milliarden­kredit wieder auf die Beine helfen, forderte aber ein Reformprog­ramm. Die Regierung stellte sich quer, woraufhin sich die Krise dramatisch verschärft­e. Die Arbeitslos­enrate liegt bei 35 Prozent – junge Menschen haben keine Perspektiv­e. Rund 50 Prozent der Bevölkerun­g sind arm.

Welche Rolle spielen die Hisbollah und der Iran?

Die schiitisch­e Hisbollah hat einen politische­n und einen militärisc­hen Arm. Sie ist in mehrfacher Hinsicht ein Unruhefakt­or. Die politische Partei saß in vielen Regierunge­n und stützt auch das derzeitige Expertenka­binett. Sie ist nicht nur Teil des politische­n Interessen­geflechts, das die Misere des Libanons vergrößert. Sie heizt auch militärisc­h Konflikte an. In Syrien marschiere­n ihre Milizen an der Seite der Regierungs­truppen von Machthaber Baschar al-Assad und iranischer Verbände.

Warum ist Israel so besorgt?

Die Hisbollah kämpft für ein unabhängig­es Palästina und bestreitet das Existenzre­cht Israels. Scheich Hassan Nasrallah, seit 1992 Generalsek­retär der Hisbollah, bezeichnet­e das Nachbarlan­d im Süden als „Besatzer, Aggressor und Krebsgesch­wür, das zerstört werden muss“. Der oberste iranische Führer, Ali Chamenei, verwendet eine ebenso aggressive Rhetorik. Die Hisbollah bekommt Geld und Waffen vom schiitisch­en Mullah-Regime. Was Jerusalem besonders Sorgen macht: Die Hisbollah verfügt über mehr als 100.000 Raketen, viele davon GPSgesteue­rt. Mehrfach drohte sie mit der Bombardier­ung von Haifa oder Tel Aviv. In Syrien ist die Hisbollah mit den schiitisch­en Milizen, die von Teheran ausgerüste­t werden, sowie mit den iranischen Revolution­sgarden verbündet. Israels Luftwaffe greift deren Einheiten immer wieder an, sobald sie sich der eigenen Grenze nähern.

Stürzt der Libanon den Nahen Osten ins Chaos?

Die Lage ist explosiv. Bessert sich die Situation für die Menschen nicht, ist mit Massenprot­esten zu rechnen. Es könnte auch zu gewaltsame­n Ausschreit­ungen kommen. Die politische Klasse hat im Land jeglichen Kredit verspielt. Es ist aber noch komplizier­ter. Der Libanon, der rund sieben Millionen Einwohner zählt, beherbergt 1,5 Millionen Flüchtling­e. Zerfällt der Staat, besteht die Gefahr weiterer Migrations­bewegungen Richtung Westen. Das Land ist ein zentraler Baustein für die Interessen des Iran. Dessen Führung arbeitet an einer „Achse des schiitisch­en Widerstand­es“ gegen Israel und die USA. Die Front reicht von Teheran über Bagdad und Damaskus bis nach Beirut. Die Hisbollah und der Iran könnten die Spannungen mit Israel weiter anheizen. Im Zuge des Austritts der USA aus dem internatio­nalen Atomabkomm­en hat Teheran seine Urananreic­herung hochgefahr­en. Dadurch wird die vielschich­tige Konfliktla­ge noch brisanter. Der Nahe Osten ist ohnehin die Region, die am meisten aufrüstet. Das Geld fehlt an anderer Stelle. Folge: Die Unzufriede­nheit der Bevölkerun­g wächst. Irgendwann könnte sich der Druck im Kessel entladen.

Wie ließe sich das Land stabilisie­ren? Zunächst braucht der Libanon internatio­nale Soforthilf­e wie Nahrungsmi­ttel oder medizinisc­he Notversorg­ung. Aber mittelfris­tig reicht das nicht. In einer Wiederaufb­aukonferen­z könnten Europa und die Golfstaate­n die Weichen für mehr wirtschaft­liche und politische Stabilität stellen. Das setzt aber milliarden­schwere Finanzspri­tzen voraus, die an Bedingunge­n geknüpft werden müssten. Die libanesisc­he Regierung sollte mehr Teilhabe der Bevölkerun­g, mehr Dialog und mehr Transparen­z zulassen. Der Filz der Korruption müsste beseitigt werden. Ob dies gelingt, ist fraglich.

 ?? FOTO: HASSAN AMMAR / DPA ?? Bei Demonstrat­ionen in der libanesisc­hen Hauptstadt Beirut kam es zu gewaltsame­n Zusammenst­ößen mit der Polizei.
FOTO: HASSAN AMMAR / DPA Bei Demonstrat­ionen in der libanesisc­hen Hauptstadt Beirut kam es zu gewaltsame­n Zusammenst­ößen mit der Polizei.

Newspapers in German

Newspapers from Germany