Thüringische Landeszeitung (Jena)
Stürzt der Nahe Osten ins Chaos?
Die Unruhen in Beirut könnten den Konflikt in Syrien verschärfen, die Spannungen mit Israel erhöhen und den Atomstreit mit dem Iran anheizen
Nach der verheerenden Explosion in Beirut schaut die Welt auf den Libanon. Das Land am östlichen Mittelmeer spielt eine Schlüsselrolle in den Konflikten im Nahen Osten. Kann der Libanon die Region ins Chaos stürzen?
Warum demonstrieren die Menschen im Libanon gegen die Regierung? Wenige Tage nach der ExplosionsKatastrophe mit rund 150 Toten kam es in Beirut zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und aufgebrachten Demonstranten. In einer Straße nahe des Parlaments setzte die Polizei Tränengas gegen die Protestierenden ein. Nach Medienberichten hatten diese zuvor Steine auf die Ordnungshüter geworfen und Geschäfte beschädigt. Viele Menschen sehen die verheerenden Detonationen als Beleg für das Versagen und die Korruption ihrer politischen Führung. „Wir können es nicht mehr ertragen. Das war’s. Das ganze System muss weg“, sagt der 30-jährige Demonstrant Mohammad Suyur. Bereits in den vergangenen Monaten hat es immer wieder Kundgebungen gegen die Regierung gegeben.
Weshalb steht das Land am Abgrund? Der Libanon steckt in der schwersten Wirtschafts- und Währungskrise seit Jahrzehnten. Die CoronaPandemie hat die Lage noch verschärft. Seit Ende des Bürgerkriegs 1990 haben sich die Reichen und Mächtigen die Taschen gefüllt und sich gegenseitig Posten zugeschanzt. Faule Kompromisse wurden zum Markenzeichen des multireligiösen und multiethnischen Landes. Der Staat ist hoch verschuldet. Der Internationale Währungsfonds (IWF) wollte dem Libanon mit einem Milliardenkredit wieder auf die Beine helfen, forderte aber ein Reformprogramm. Die Regierung stellte sich quer, woraufhin sich die Krise dramatisch verschärfte. Die Arbeitslosenrate liegt bei 35 Prozent – junge Menschen haben keine Perspektive. Rund 50 Prozent der Bevölkerung sind arm.
Welche Rolle spielen die Hisbollah und der Iran?
Die schiitische Hisbollah hat einen politischen und einen militärischen Arm. Sie ist in mehrfacher Hinsicht ein Unruhefaktor. Die politische Partei saß in vielen Regierungen und stützt auch das derzeitige Expertenkabinett. Sie ist nicht nur Teil des politischen Interessengeflechts, das die Misere des Libanons vergrößert. Sie heizt auch militärisch Konflikte an. In Syrien marschieren ihre Milizen an der Seite der Regierungstruppen von Machthaber Baschar al-Assad und iranischer Verbände.
Warum ist Israel so besorgt?
Die Hisbollah kämpft für ein unabhängiges Palästina und bestreitet das Existenzrecht Israels. Scheich Hassan Nasrallah, seit 1992 Generalsekretär der Hisbollah, bezeichnete das Nachbarland im Süden als „Besatzer, Aggressor und Krebsgeschwür, das zerstört werden muss“. Der oberste iranische Führer, Ali Chamenei, verwendet eine ebenso aggressive Rhetorik. Die Hisbollah bekommt Geld und Waffen vom schiitischen Mullah-Regime. Was Jerusalem besonders Sorgen macht: Die Hisbollah verfügt über mehr als 100.000 Raketen, viele davon GPSgesteuert. Mehrfach drohte sie mit der Bombardierung von Haifa oder Tel Aviv. In Syrien ist die Hisbollah mit den schiitischen Milizen, die von Teheran ausgerüstet werden, sowie mit den iranischen Revolutionsgarden verbündet. Israels Luftwaffe greift deren Einheiten immer wieder an, sobald sie sich der eigenen Grenze nähern.
Stürzt der Libanon den Nahen Osten ins Chaos?
Die Lage ist explosiv. Bessert sich die Situation für die Menschen nicht, ist mit Massenprotesten zu rechnen. Es könnte auch zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen. Die politische Klasse hat im Land jeglichen Kredit verspielt. Es ist aber noch komplizierter. Der Libanon, der rund sieben Millionen Einwohner zählt, beherbergt 1,5 Millionen Flüchtlinge. Zerfällt der Staat, besteht die Gefahr weiterer Migrationsbewegungen Richtung Westen. Das Land ist ein zentraler Baustein für die Interessen des Iran. Dessen Führung arbeitet an einer „Achse des schiitischen Widerstandes“ gegen Israel und die USA. Die Front reicht von Teheran über Bagdad und Damaskus bis nach Beirut. Die Hisbollah und der Iran könnten die Spannungen mit Israel weiter anheizen. Im Zuge des Austritts der USA aus dem internationalen Atomabkommen hat Teheran seine Urananreicherung hochgefahren. Dadurch wird die vielschichtige Konfliktlage noch brisanter. Der Nahe Osten ist ohnehin die Region, die am meisten aufrüstet. Das Geld fehlt an anderer Stelle. Folge: Die Unzufriedenheit der Bevölkerung wächst. Irgendwann könnte sich der Druck im Kessel entladen.
Wie ließe sich das Land stabilisieren? Zunächst braucht der Libanon internationale Soforthilfe wie Nahrungsmittel oder medizinische Notversorgung. Aber mittelfristig reicht das nicht. In einer Wiederaufbaukonferenz könnten Europa und die Golfstaaten die Weichen für mehr wirtschaftliche und politische Stabilität stellen. Das setzt aber milliardenschwere Finanzspritzen voraus, die an Bedingungen geknüpft werden müssten. Die libanesische Regierung sollte mehr Teilhabe der Bevölkerung, mehr Dialog und mehr Transparenz zulassen. Der Filz der Korruption müsste beseitigt werden. Ob dies gelingt, ist fraglich.