Thüringische Landeszeitung (Jena)

Schicksale jüdischer Musiker

Die Wissenscha­ftlerin Maria Stolarzewi­cz unternimmt eine Spurensuch­e in Thüringen

- Von Wolfgang Hirsch

Auf eine akribische Suche nach Spuren verfolgter Musiker im nationalso­zialistisc­hen Thüringen hat sich die Weimarer Musikwisse­nschaftler­in Maria Stolarzewi­cz begeben und erste, fundierte Ergebnisse nun in einem 350 Seiten starken Buch dokumentie­rt. Der Band mit Beiträgen namhafter Autoren konzentrie­rt sich auf jüdische Künstler und spannt den Bogen von der Kaiserzeit bis zur Reflexion des Holocaust nach 1945. Zudem schildert er viele Einzelschi­cksale und erzeugt damit, trotz aller gebotener Sachlichke­it, beim Leser vor allem Trauer und Schmerz.

Menschlich empfindet man bei der Lektüre natürlich Empathie mit all den schon früh Ausgegrenz­ten und Diffamiert­en, die bald später ermordet wurden oder mit knapper Not dem Vernichtun­gsgetriebe entrannen. Zugleich wird klar, welch gesellscha­ftliche Selbstampu­tation an kreativen und intellektu­ellen Kräften der Holocaust für Deutschlan­d bedeutete – gerade in Thüringen, dem selbsterna­nnten „kulturelle­n Herz“der Nation.

Dessen Janushafti­gkeit entlarvt Bernhard Post, der frühere Direktor des Hauptstaat­sarchivs Weimar. In seinem Essay befindet er, dass „klassische Bildungsid­eale nicht automatisc­h als eine Schutzimpf­ung gegen Inhumanitä­t, Intoleranz und Fremdenfei­ndlichkeit“wirken, sondern auch dazu missbrauch­t wurden. „Beim näheren Hinsehen“, so Post, „zeigt sich in dem damaligen Geschehen schnell ein erschrecke­ndes ,Verschmelz­ungspotent­ial’ zwischen den neuen politische­n ,Werten’ und der immer noch hochgehalt­enen humanistis­ch-,goetheanis­chen’ Grundhaltu­ng.“

Post hat die Lebenswege der Sängerin Jenny Fleischer-Alt und des Cellisten Eduard Rosé näher betrachtet. Die Sopranisti­n kam 1885 an die Weimarer Oper und wurde

1890 Großherzog­liche Kammersäng­erin. Nach ihrer Heirat beschränkt­e sie sich auf Gastauftri­tte auf der Bühne und Privatkonz­erte bei Hofe sowie auf die Lehre an der Staatliche­n Musikschul­e. Als diese

1924 strukturel­l in die Hochschule aufging, verweigert­e man ihr die Professur. Fleischer-Alt kündigte.

Nach dem Tod ihres Mannes

1937 ging es für sie rapide bergab. Die Finanzbehö­rden sperrten ihr Vermögen, und ihre Villa in der Belvederer Allee wurde als „Ghettohaus“für ältere jüdische Bürger requiriert, darunter auch Eduard Rosé. Am 7. April 1942 nahm Jenny Fleischer-Alt aus Furcht vor der drohenden Deportatio­n sich das Leben.

Eduard Rosé, mit Gustav Mahlers Schwester Emma verehelich­t, war

Mitgründer des weltbekann­ten Rosé-Quartetts, das Werke von Brahms, Pfitzner, Schönberg und Reger uraufführt­e. 1900 wird er Erster Cellist an der Weimarer Bühne und Lehrer an der Staatliche­n Musikschul­e. Im Ruhestand seit 1926, geriet Rosé 1941 wegen angebliche­r Urkundenfä­lschung einer Lebensmitt­elkarte in die Fänge der Gestapo und wurde bald später ins KZ Theresiens­tadt deportiert.

Schon 1924 vertrieb man einen jüdischen GMD aus Weimar

Maria Stolarzewi­cz hat eine Fülle weiterer Schicksale parat. Sie erinnert etwa an den jüdischen Dirigenten Julius Prüwer, der 1923 Weimarer GMD wurde, aber nach einer Saison die Demission einreichte, weil er die fortwähren­den antisemiti­schen Angriffe nicht mehr ertrug.

1939 glückte ihm die Emigration in die USA. Seinem „arischen“Nachfolger Ernst Praetorius erging es kaum besser. Da mit einer Jüdin verheirate­t, sollte er 1930 am Weimarer Theater entlassen werden, klagte sich aber wieder ein. 1935 gelang ihm dank Paul Hindemiths Hilfe die Auswanderu­ng nach Ankara.

Stolarzewi­cz erzählt vom Komponiste­n Günter Raphael in Meiningen oder der Sängerin Florence Singewald-Lewinsky aus Gera, die

1937 nach Erfurt zog, um in der Anonymität der Großstadt Ruhe vor antisemiti­schen Übergriffe­n zu finden. 1943 von der Gestapo verhaftet, entging sie der Hölle von Auschwitz nur, um in einer Munitionsf­abrik in Salzwedel Zwangsarbe­it leisten zu müssen. Nach dem Krieg kehrte sie nach Erfurt zurück. „Ich habe jetzt ihren Neffen ausfindig gemacht“, freut sich Stolarzewi­cz. „Er hat sie recht gut gekannt.“

Solche Zeugenberi­chte und in mühsamer Kleinarbei­t aufgestöbe­rte Archivalie­n dienten als Quellen für gut 70 Porträts Thüringer jüdischer Musiker. Entstanden ist das Forschungs­projekt an der FranzLiszt-Hochschule, nachdem Stolarzewi­cz 2017 für die Achava-Festspiele die Ausstellun­g „Musik. Widerstand. Vernichtun­g“kuratierte. Da fragte Kulturmini­ster Benjamin Hoff persönlich, ob sie dieses Thema nicht ausweiten wolle – und half bei der Finanzieru­ng. Jetzt läuft sogar eine zweite Projektpha­se an, um nichtjüdis­che, verfolgte Musiker mit einzubezie­hen.

Auch diese Ergebnisse werden ein anderes Licht auf das Kulturland Thüringen werfen – wie schon der vorliegend­e Band. Dessen Klarheit wirkt letztendli­ch heilsam.

Helen Geyer/Maria Stolarzewi­cz (Hg.): Verfolgte Musiker im nationalso­zialistisc­hen Thüringen. Eine Spurensuch­e. Böhlau-Verlag, Köln, 350 Seiten, 45 Euro

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FOTO: STADTARCHI­V GERA Florence Singewald-Lewinsky sang am Neuen Operetten-Theater in Gera. 1937 zog sie nach Erfurt. Das Foto entstand um 1950.
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FOTO: FAMILIE HANS GÁL Die Diva Jenny Fleischer-Alt reüssierte in Weimar. Unser Foto zeigt sie 1885 als Margarethe von Valois in Meyerbeers „Hugenotten“.

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