Thüringische Landeszeitung (Jena)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
Du wirst ihm einfach zu ... zaghaft gewesen sein“, sagte Böhringer.
„Eben. Genau das ist das Problem. Besser gesagt, eins der Probleme. Ich war zu zaghaft, zu wenig reißerisch.“
Die Sekretärin brachte die Getränke.
Dann beugte sich Böhringer über den Tisch.
„Du darfst aber nicht vergessen, unter was für einem Druck auch wir standen. Du kennst die Berichte aus dem Fernsehen: n-tv, N24, RTL – die haben stundenlange Sondersendungen gebracht. Wir müssen als Zeitung schließlich konkurrenzfähig bleiben.“
„Genau! Wer von uns beiden hat denn früher in den Redaktionssitzungen darauf gepocht, dass jedes Medium eigene Kernkompetenzen hat. Hier der rasche erste Zugriff durch Funk und Fernsehen, dort die fundierten Hintergründe von den Printmedien.“
„Du musst mich nicht daran erinnern, ich weiß, was ich gesagt habe. Aber nochmal: Die Welt hat sich weitergedreht, Laurenz!“
„Denkst du nicht, ich hätte sie nicht auch gesehen, die eingestürzten Häuser, die zertrümmerten Autos, die zerquetschten Leiber, die abgetrennten Gliedmaßen, die vor Trauer Zusammenbrechenden. Ich habe verwahrloste Kinder in den Zeltstädten vor Hunger betteln sehen, Waisen, um die sich niemand gekümmert hat.“Er brach ab, weil er spürte, wie er sich in Rage redete.
„Ich weiß doch, ich weiß. Und du hast gut und sensibel darüber berichtet.“
„Ja, und ich habe auch die Bilder dazu gehabt. Aber ich habe mich ebenso an den Pressekodex gehalten, an den Verzicht auf unangemessen sensationelle Berichterstattung. Und genau das hat meiner Zeitung nicht gepasst.“
„Laurenz, ich verstehe ja deine Erregung, aber worauf willst du hinaus?“
„Darauf, dass das nur der Anfang war. Oder vielleicht nicht einmal der Anfang. Vielleicht habe ich es nur damals das erste Mal bemerkt.“„Was bemerkt?“
„Wie sehr sich der Journalismus in diesem Land geändert hat. Wir pfeifen doch heute alle auf den Pressekodex.“
„Pressekodex, Pressekodex, große Worte, Laurenz, große Worte.
Die Praxis, das Leben selbst setzt uns unter Druck.“
Stadler lachte auf. Er stieß mit dem Finger in der Luft in Böhringers Richtung.
„Ja. Genau. Genau das meine ich. Erst ist es nur die Sensationsgeilheit, dann ist es die Sorgfaltspflicht, irgendwann sieht unser Blatt aus wie alle anderen. Die Leute werden uns einfach nicht mehr glauben, genau so, wie sie heute schon dem Boulevard nicht mehr glauben. Du selbst hast vorhin RTL angeführt.“Böhringer blies die Backen auf. „Du willst wegen des Streits um eine Überschrift eine Grundsatzdiskussion anfangen.“
Stadler winkte ab, beinahe apathisch.
„Gar nichts will ich anfangen“, sagte er, ruhig und leise. „Ich will dir nur klarmachen, warum ich mit diesem ganzen hektischen Getue nicht zurechtkomme. Diesem Gefasel vom und der
Böhringer hob die Hand. „Newsdesk bitte.“
„Großartig! Wir geben der Sache einen neuen Namen und schon haben wir wieder ein eigenes Profil.“„Bitte werde nicht sarkastisch.“„Schon gut, vergiss es.“„Aber nun bleib doch mal auf dem Teppich, Laurenz“, Böhringer hob die Stimme, „du kommst nicht zurecht, und da beschwörst du gleich den Untergang der deutschen Zeitungslandschaft – was möchtest du denn? Willst du eine andere Aufgabe?“
„Hast du denn eine?“Stadler hatte die Frage ganz leise gestellt.
Böhringer schwieg. Stadler war sich nicht sicher, ob er nun nachdachte oder ob er eine Ausrede suchte. Dann öffnete sein Chef die Handflächen.
„Offen gestanden, nein.“Stadler nahm einen Schluck Tee, setzte die Tasse geräuschvoll ab.
„Siehst du. Ich fühle mich hier auf einem hochglanzpolierten Abstellgleis, und du kannst mir nichts anderes anbieten.“
„Sieh mal“, begann Böhringer erneut, „du bist hier für den
ganz wichtig. Ich brauche dich, um die Qualität des Produkts Zeitung zu sichern.“
„Was denn nur für eine Qualität, Herrgottnochmal? In diesem Sommer hat sich diese Zeitung von fast 20 Redakteuren getrennt. Haben denn alle bisher gefaulenzt, dass jetzt deutlich weniger dasselbe Arbeitspensum schaffen sollen?“
„Dafür haben wir ja umstrukturiert.“
„Umstrukturiert? Von welchen Kaputtsanierern hast du nur solche Wörter? Gestern, du wirst dich erinnern, hast du bei der Überschriftenkonferenz gesagt, die Zeitung von morgen soll die beste werden. Ein Lieblingsspruch von dir, den kenne ich seit Jahrzehnten. Und soll ich dir was sagen: Ich habe beinahe gelacht. Denn der Spruch hört sich mittlerweile wie eine Liturgie an, oder besser gesagt: wie eine Durchhalteparole im Krieg. Dabei haben wir die Schlacht längst verloren.“