Thüringische Landeszeitung (Jena)
Die vergessenen Olympia-Helden
In stattlicher Zahl traten Thüringer 1980 bei den Spielen in Moskau an. Im Schatten der Sieger standen nicht minder große Leistungen
5. August 1980, Nachmittag, mehr als 10.000 Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz, Sprechchöre: Wie anderswo bereiten die Erfurter ihren Olympiastartern von Moskau einen begeisternden Empfang. Im Mittelpunkt die Olympiasieger wie Geher Hartwig Gauder oder Hürdensprinter Volker Beck. Doch sind es nicht nur die goldenen Momente, die bewegen. Hinter Silber, Bronze oder Holz stehen ebenso persönliche Geschichten von hartem Training, Entbehrung und Erfolg. Ein Blick hinter den Glanz des Goldes.
Adrian Germanus (Fechten): Die Olympia-Bilanz des Jenaer Florettfechters liest sich wie zweimal „nur“Holzmedaille. In Moskau blieb der damals 25 Jahre alte Jenaer Mannschafts-Fechter mit dem Team im Halbfinale nach einer 5:9Niederlage gegen Polen hängen. Acht Jahre später verpassten die vier DDR-Musketiere in Seoul erneut das Finale. Germanus war in den 1980er-Jahren eine feste Größe im DDR-Fechtsport. 1984 und 1985 wurde er DDR-Meister. Internationales Edelmetall sammelte er 1983 als WM-Zweiter mit der DDRMannschaft. Drei Jahre später focht sich das Team zu WM-Bronze. Germanus ist in Baden heimisch geworden. Seit einigen Jahren ist er Trainer beim TSV Tettnang und TSB Ravensburg. Beruflich ist der Sportlehrer und Sporttherapeut in der Diakonie Pfingstweid tätig.
Frank Mantek (Gewichtheber): Als Talent aus der Gemeinde Dorndorf-Steudnitz im Saale-Holzland-Kreis war Mantek zum Sportklub Chemnitz delegiert worden. Moskau war sein erster internationaler Wettkampf. Bronze – ein Paukenschlag. Nachdem Weltmeister und Top-Favorit David Rigert nach drei Fehlversuchen ausgeschieden war, erkämpfte er sich mit 370 kg im Zweikampf Platz drei. Da die Entscheidungen auch als WM gewertet wurden, erhielt er noch WM-Bronze im Zweikampf und Silber im Stoßen. Nach seiner Karriere war Mantek im Gewichtheber-Verband aktiv, danach beim Bundesstützpunkt – in der Doppelfunktion als Sportdirektor und Cheftrainer. Nach einem Herzinfarkt gab er diese auf und ist seit 2012 Sportdirektor.
Hildegard Ullrich (Leichtathletin):Moskau war eine gelungene Olympia-Premiere für die damals 21-Jährige (Foto).
Die aus Urnshausen im Wartburgkreis stammende Mittelstrecklerin bezeichnet heute noch den unter ihrem Mädchennamen Ullrich erkämpften Platz fünf über 800 m hinter Martina Kämpfert (Berlin) als Erfolg. „Medaillen waren für uns nicht drin. Die sowjetische Olympiasiegerin Nadeshda Olisarenko lief mit 1:54,9 Minuten Weltrekord“, sagt sie. Hildegard Ullrich gehörte fast ein Jahrzehnt zu den besten europäischen Mittelstrecklerinnen. Den größten Erfolg ihrer Laufbahn feierte sie mit Silber bei den Weltmeisterschaften 1987 in Rom über 1500 Meter. Mit den damals gelaufenen 3:58,67 min ist „Hilde“noch heute Dritte in der „Ewigen deutschen Bestenliste“. Inzwischen ist die Diplomsportlehrerin bei der Rentenversicherung in Erfurt tätig.
Harald Vollmar (Pistolenschütze): Der Bad Frankenhäuser brachte bei vier Olympia-Starts dreimal Edelmetall mit nach Hause, doch in der breiten Thüringer Sport-Öffentlichkeit tauchte Harald Vollmar selten auf. Grund: Er startete für den GST-Klub Leipzig. Zu Bronze reichte es für Vollmar 1968 in Mexiko, Silber schoss er 1976 in Montreal und in Moskau. Die Spiele von 1980 hat er in schlechter Erinnerung. Weil sie zum letzten Wettkampf seiner internationalen Laufbahn wurden. Wenige Tage danach teilte ihm sein Klubleiter mit, dass er entgegen vorheriger Absprachen vom Leistungssport-Auftrag entbunden sei. Das traf den Weltmeister
von 1970 hart. Vier Tage danach wurde er als DDR-Verbandstrainer der Pistolenschützen berufen. 1984 kehrte er nach Bad Frankenhausen zurück, um seiner pflegebedürftige Mutter zu helfen. Nach der Wiedervereinigung trainierte er die Schweizer Pistolenschützen. Der 73-Jährige lebt in seiner Geburtsstadt.
Gerald Mortag (Bahnradsportler): Die Spiele in Russland hätte der Geraer fast verpasst. Den heute
61-Jährigen, der von
1977 bis 1979 zu den Weltmeisterteams in der Mannschaftsverfolgung zählte, plagte sich kurz vor Olympia mit einem Hexenschuss oder Bandscheibenvorfall. „Meine Mannschaftskameraden waren bereits nach Moskau geflogen. Ich dachte echt schon, das war’s.“Doch es wurde besser. Tag für Tag und Mortag flog hinterher. Die Gastgeber gewannen, der DDRVierer mit Mortag, Uwe Unterwalder, Matthias Wiegand und Volker Winkler unterlag im Endlauf. Für Mortag war es keine Niederlage. „Wenn ich bedenke, dass mein Olympiastart arg in Gefahr war, dann glänzt das Silber wie Gold.“
Jürgen Fanghänel (Boxer): Als echtes Schwergewicht durfte 1980 Jürgen Fanghänel mit. Der Boxer der SG Wismut Gera war in seiner Gewichtsklasse über viele Jahre das Maß der Dinge (acht Meistertitel) und auch international erfolgreich, obwohl es für den WM-Zweiten von 1982 nie zum ganz großen Wurf reichte. Das bedauert der heute wieder in seiner Geburtsstadt Limbach-Oberfrohna lebende 69Jährige. „Viel gesehen von Moskau haben wir zwar nicht, aber das war nicht so schlimm. Der Empfang in Gera dafür umso schöner“, erinnert er sich gern. 1982 war Schluss, im Prinzip ab dem nächsten Tag arbeitete er als Trainer bei Wismut Gera. Und war Vorbild für Boxer wie den WM-Zweiten Enrico Richter.
Margitta Pufe (Leichtathletin): In der Zusammenfassung der Moskauer Spiele findet Margitta Pufe (geb. Droese) nur in wenigen Zeilen Erwähnung findet. Nicht einfach, wenn der Gewinn von Bronze schon wie eine Holzplakette erscheint. Der Schatten aber ist lang, aus dem die Geraerin seinerzeit auszutreten versucht. Die Berlinerin Ilona Slupianek, 1977 positiv auf Doping getestet, stößt die Kugel in eigenen Sphären. Neun 22er-Weiten vor Olympia und gleich mal
22,41 m zum Auftakt, vier Zentimeter an ihrem damaligen Weltrekord vorbei. Da scheinen 21,20 Meter von Margitta Pufe abzufallen, bedeuten aber Edelmetall für die nach dem Sport lange bei Carl Zeiss tätige 67-Jährige. Mit dem Diskus verstand sie ebenso umzugehen. Sie trainierte in Jena, gehörte zu den Weltbesten. Moskau wurde zum größten Moment. Schon ihre Weite von damals ist seit mehr als 20 Jahren in Deutschland unerreicht.
Henry Lauterbach (Hochspringer): „Es scheint vorläufig mein Schicksal zu sein, dass ich Vierter werde. Bei der EM war’s auch so. Aber ich freue mich echt und bin keine Spur von enttäuscht. Nach der Verletzung war’s das maximalste, was ich rausholen konnte“, meinte der damals Vierte, der mit 2,29 m seine Top-Leistung in Moskau abgerufen hatte. Die stand nur im Schatten der Show von Gerd Wessig. Während DDR-Rekord-Mann Rolf Beilschmidt (Jena) infolge einer Achillessehnen-Operation fehlte, übersprang der Schweriner 2,36 Meter. Weltrekord. An dritter Stelle folgte der damals 18 Jahre alte Potsdamer Jörg Freimuth mit 2,31 m. Von einer Sternstunde des Hochsprungs war die Rede. Auch für den damals 22 Jahre alten Buttstädter Lauterbach. Mit 62 ist der Turbine-Springer dem Sport als Projektleiter in der Thüringer Sportjugend weiter verbunden.
Rüdiger Schnuphase (Fußballer): Die vorgegangenen Partien im hochsommerlichen Moskau waren in die Beine gegangen. Umso mehr genoss Rüdiger Schnuphase die beiden Ruhetage vor dem Finale der DDR-Elf gegen die der CSSR. In der Hoffnung auf den ganz großen Wurf. Die machte der Tscheche Svoboda mit seiner zweiten Ballberührung zum 1:0-Sieg zunichte. Bitter für den damals 27-jährigen Erfurter. Mit zwei Kopfball-Chancen hätte er genauso der Mann des Finals werden können. Zu den Aktivposten aber zählte der aus Werningshausen stammende Mittelfeldmann im Turnier. Er, eine Eiche von Libero, wie vorm großen Europapokaltriumph mit Carl Zeiss Jena im gleichen Jahr bezeichnet wurde, war meist zur Bewachung der Spielmacher angesetzt. Gegen den Irak traf er und bereitete im Halbfinale gegen Russland den Siegtreffer per Kopfballablage vor. Silber war sicher. Die erste olympische Medaille – eine besondere auch für den 45-fachen Nationalspieler, der zuletzt als Landestrainer im Nachwuchs tätig war und 2019 in Ruhestand ging.
Jörg Walter (Schwimmer): Die Enttäuschung stand dem Erfurter Jörg Walter nach seinem Olympiaeinstand ins Gesicht geschrieben. „Ich fand einfach nicht in meinen Rhythmus und verkrampfte von Meter zu Meter“, sagte der Brustschwimmer damals Journalisten, nachdem er das 100-m-Finale verpasst hatte. Viel besser lief es für den 23 Jahre alten Medizinstudenten vom SC Turbine auch danach nicht. Nach vier nationalen Titeln wenige Monate zuvor erfüllten sich ebenso wenig die Hoffnungen mit der Lagenstaffel. Während Australien zu Sensationsgold schwamm, blieb dem Quartett um Walter nur der undankbare vierte Platz. Mit nationalem Rekord. Der Kardiologe hält dem Schwimmen noch immer die Treue, neben seiner Praxis lenkt er den Mühlhäuser Schwimmverein.
Johanna Klier (Leichtathletin): Ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter Juliane stürmt Johanna Klier in Moskau über 100 Meter Hürden zu Silber. Die Kraft an der zehnten Hürde fehlt etwas und die in Artern geborene Leichtathletin wäre wie in Montreal 1976 zu Gold gerannt. So bleibt ein silbern glänzendes Comeback. Eines, das die einstige Mehrkämpferin Freundin Annerose Fiedler mit zu verdanken hat. Die spätere Ehefrau ihres Trainers Eberhard König und sie hatten 1979 nahezu zeitgleich entbunden. Ausgerechnet die Freundin, die sie aus dem Aufgebot von Montreal verdrängt hat, redete ihr zu und schob beide Kinder im vom Verein gekauften Wagen, damit Johanna Klier (geb. Schaller) trainieren konnte. Dass beide nach dem 60. Geburtstag Johanna Kliers nach Montreal reisten, fügte sich in die Geschichte. Diese hat die die 2018 in Ruhestand gegangene langjährige Mitarbeiterin der Sportjugend in selbstloser Art nie als besonders nach außen getragen, obgleich sie das sicher ist. Wenn Silber mehr wert ist als Gold.