Thüringische Landeszeitung (Jena)
Hello Joe!
Washington. Es ist der Versuch eines Schulterschlusses mit vergrätzten, verunsicherten Partnern. Unter Konditionen, die nicht jedem behagen werden: US-Prä- sident Joe Biden will bei seiner ersten Auslandsreise nach den vier ruppigen Jahren mit Donald Trump in Europa gut Wetter machen, Allianzen reparieren, neuen Führungsan- spruch anmelden – und das alles mit einem Langfristziel: eine Allianz der westlichen Demokratien gegen das aus US-Sicht nach der Weltherrschaft greifende Staatsmodell Chinas zu bilden.
„Wir werden sicherstellen, dass marktwirtschaftliche Demokratien und nicht China oder irgendwer sonst die Regeln des 21. Jahrhunderts für Handel und Technologie festlegen“, gab der 78-Jährige vor der Landung am Mittwochabend in Großbritannien das Leitmotiv für die kommenden acht Tage aus.
Mit anderen Worten: Biden sieht in dem Speed-Dating-Programm mit mehr als 35 Staats- und Regierungschefs sowie der Queen den Auftakt zu einer konzertierten Aktion des Westens gegen China. „Dieser Aspekt wird die vielen bilateralen Treffen, den G7-Gipfel in Cornwall und die Spitzentreffen mit Nato und Europäischer Union Anfang der Woche in Brüssel unterschwellig prägen“, sagte ein US-Diplomat unserer Redaktion. „Konflikte sind also programmiert.“
Biden redet Merkel mit „Angela“an
Denn dass die EU, vor allem Deutschland, wo Biden die scheidende Regierungschefin vertraut mit „Angela“anredet, einen wirtschaftlich geprägten Blickwinkel zu Peking pflegt, ist in Washington bekannt. Das gilt auch für den Umgang mit Russland. Biden trifft Präsident Wladimir Putin zum Abschluss am 16. Juni auf neutralem Schweizer Territorium in Genf.
Joe Biden will im „Kampf der Systeme“das von Trump mit Geringschätzung bedachte Europa für sich einnehmen, indem er bei Themen wie Demokratiestärkung, Klimaschutz und Menschenrechte vorangeht. Neben ehrgeizigen Zielen bei der Reduzierung von Treibhausgasen will Biden eine Impfstoff-Offensive gegen die Corona-Pandemie verkünden. Gleichzeitig setzt er auf staatlich mit Milliardensummen geförderte Hilfsmaßnahmen in Schlüsselindustrien der Informationstechnologie (Halbleiter etc.), um China Konkurrenz zu machen.
Ob Biden es auf fotogen belegbare Atmosphärenverbesserung anlegt oder hinter verschlossenen Türen dezidierte Forderungen an die Partner vorlegen lässt, ist noch nicht ausgemacht.
Äußerungen des Nationalen Sicherheitsberaters Jake Sullivan zum Wochenanfang musste man so verstehen, dass sich Biden in puncto Sprache und Auftreten als Anti-Trump inszenieren wird. Dabei ist seine Kernhaltung gegenüber China in der Sache von der des abgewählten Republikaners kaum zu unterscheiden. Spannend werde darum, wie Biden reagiert, „wenn europäische Staats- und Regierungschefs der auf Konfrontation angelegten Chinapolitik Washingtons widersprechen“, sagen Experten in Denkfabriken der USHauptstadt. Sie erinnern daran, dass die Beteuerung Bidens, die Europäer partnerschaftlich auf Augenhöhe zu behandeln, mit der Wirklichkeit seit Mitte Januar nicht immer Schritt hält. Vom Radikalabzug der US-Truppen aus Afghanistan wurde die Nato nachträglich informiert. Unzulänglich war zudem die Kommunikation, als es um die von den USA propagierte Aufhebung der Impfpatente gegen Corona ging.
Aus deutscher Sicht ist der Umgang mit dem Streitobjekt Nord Stream 2 von hoher Bedeutung. Biden will für den Verzicht auf wei- tere Sanktionen ein substan- zielles Entgegenkommen Berlins, das sich gegen Russ- land richtet. Ein Aspekt: Die Uk- raine soll an den Einnahmen des Transports russi- schen Gases be- teiligt werden. Der Gegenspie- ler Amerikas zog sich zuletzt durch Cyberattacken auf US- Eigentum den Zorn des Wei- ßen Hauses zu. In Genf will Biden mit Putin Klartext re- den, was Gegenmaßnahmen Washingtons angeht. Die Nato soll sich hier verstärkt kümmern.
Die Tage vor Genf geben Biden Gelegenheit, ein Stim- mungsbild über die empfun- dene Bedrohungslage durch Moskau (Ukraine etc.) einzu- holen und dann mit der Pro- kura seiner Amtskollegen zwischen London, Paris und Berlin gegenüber dem Kremlführer aufzutreten.
Die tiefen Risse zu kitten, die Trumps Polterpolitik gegenüber EU und Nato er- zeugt haben, wird für Biden nicht einfach. Ein simpler Grund: Was, wenn er 2024 die Wiederwahl verliert und Trump zurückkehrt?
Berlin. Wenn sich Joe Biden, Angela Merkel und Emmanuel Macron vorbereiten wollen auf ihr großes G7Gipfeltreffen ab diesem Freitag, könnte ausnahmsweise die Lektüre von Rosamunde Pilcher hilfreich sein. Das Luxushotel Carbis Bay Estate, in dem die Staatslenker drei Tage lang konferieren, liegt ja nicht nur mitten im malerischen Cornwall im Südwesten Englands, das deutschen TV-Zuschauern als Rosamunde-PilcherLand bestens vertraut ist. Die Nobelherberge hat Pilcher auch gleich in zwei Herzschmerz-Romanen verewigt.
Carbis Bay Estate scheint also wie geschaf- fen für mindestens gefühlsbeladene, wegweisende Begegnungen. Und die dürfte es gleich mehrfach geben: Denn dieser Gipfel ist nicht nur Schauplatz von Joe Bidens erstem großen internationalen Auftritt als USPräsident, sondern auch von Merkels Abschied von der internationalen Bühne.
Von den vielen letzten Malen, die die scheidende Kanzlerin in diesen Wochen und Monaten erlebt, dürfte der
G7-Gipfel für Merkel – anders als etwa Karnevalsempfänge
Auf die wichtigsten Begegnungen hat sie sich mit ihrem engen Beraterteam immer sehr minutiös vorbereitet, die Gewohnheiten des jeweiligen Gesprächspartners studiert. Der Legende nach soll sie als Vorbereitung auf das erste Treffen mit Frankreichs früherem Präsidenten Nicolas Sarkozy Louis-de-FunèsFilme geschaut haben, um besser dessen Temperament zu verstehen.
Anders als ihrem Vorgänger Gerhard Schröder blieben Merkel zu Beginn ihrer Amtszeit große Krisen wie die Kriege im Kosovo und im Irak erspart. Sie sollten später mit der Finanzund Flüchtlingskrise sowie
Orban bat Merkel, doch bitte weiterzumachen Die Wiederaufnahme des durch den Irak-Krieg zerrütteten transatlantischen Verhältnisses fiel ihr leichter als der Umgang mit Wladimir Putin, dem sie stets misstraute. Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet der Streit über das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 einer der heikelsten Punkte in der Begegnung zwischen Merkel und Biden sein wird.
Weitere große Themen in Cornwall sind der Klimaschutz, als Vorbereitung auf die UNKlimakonferenz im November, sowie die Handelsbeziehungen. Mit Joe Biden als neuem amerikanischen Counterpart wird beides leichterfallen als mit seinem Vorgänger Donald Trump.
Früher als andere erkannte Merkel, dass sich China auf dem Weg zur neuen Weltmacht befindet. Vom Kernstück dieses Expansionskurses – dem Projekt neue Seidenstraße – sprach sie, als andere mit dem Begriff noch wenig anzufangen wussten. Dass Merkels Abschied eine Lücke auf der internationalen Bühne reißen wird, ist in Europa seit Monaten ein Thema. Ungarns Premierminister Viktor Orbán hat die Kanzlerin sogar unter vier Augen dringlich aufgefordert, doch bitte weiterzumachen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hielt kürzlich beim Treffen des Deutsch-Französischen Ministerrats eine berührende Abschiedsrede, lobte die „außergewöhnliche Zusammenarbeit“und sagte an Merkel gewandt: „Deine Tatkraft, manchmal deine Geduld und deine Entschlossenheit waren entscheidend.“
Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich Macron gelegentlich einen engeren Schulterschluss gewünscht hätte – aber Merkel hat stets auch darauf geachtet, dass die vielen anderen, kleineren EU-Staaten nicht den Eindruck haben, vom deutschfranzösischem Tandem bevormundet zu werden; genau das macht ihre Beliebtheit in Europa aus. Den Laden zusammenzuhalten – das war eines der eisernen Grundprinzipien von Merkels Außenpolitik, nicht nur in Europa.