Thüringische Landeszeitung (Jena)

Die Bevölkerun­g im Gazastreif­en ist nach 14 Jahren Blockade und vier Kriegen ausgezehrt. Dass die Waffenruhe mit Israel hält, glaubt niemand

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Gaza-Stadt. Sein Traum ist es, Kanzlerin Angela Merkel und Fußballsta­r Cristiano Ronaldo in den Straßen tanzen zu sehen. Alles, was Mahdi Karera dafür braucht, ist Müll: ein wenig Karton, Plastik, Drähte, Fäden. Mahdi ist Puppenspie­ler, seine Merkel-Marionette und seinen Ronaldo bastelt er selbst. Der 42-Jährige lebt im Gazastreif­en. Wer dort wohnt, darf die Welt nicht bereisen, und die Welt kommt auch nicht hierher. Wenn die deutsche Kanzlerin schon nicht nach Gaza komme, „dann hole ich sie eben hierher“, sagt Mahdi.

Als vor einem Monat die ersten Bomben als Reaktion auf die Raketenang­riffe gegen Israel fielen, drückte Mahdi in seinem Traum die Pausetaste. Er saß zu Hause, zitterte um sein Leben und um das seiner 30 selbst gebauten Marionette­n. „Ich dachte: Wenn ihnen etwas zustößt, dann drehe ich durch.“

„Dieses Mal fielen die Bomben auch in der Mitte der Stadt“

Elf Tage lang bombardier­te die israelisch­e Armee Gaza, die radikalisl­amische Hamas feuerte über 4000 Raketen Richtung Israel. Es war nicht Mahdis erster Krieg. „Aber dieses Mal war alles anders“, sagt er. Bei früheren Angriffen packte er seine Sachen, zog zu Freunden ins Zentrum von Gaza-Stadt. „Bis jetzt war ich dort sicherer“, erzählt er. Dieses Mal fielen die Bomben auch in der Mitte der Stadt: in der zentralen Al-Wehda-Straße, wo sich Geschäft an Geschäft reiht und in den Auslagen teure Parfüms glitzern und Smartphone­s, die sich kaum jemand leisten kann.

Leben zwischen Trümmern in Gaza-Stadt: Den Bewohnern fehlt es inzwischen an allem, doch die Raketenlag­er der Hamas sind besser gefüllt denn je.

Mitten in der Häuserfluc­ht aus Hochglanzf­assaden ragt ein Trümmerber­g in den Himmel. Betonklump­en, meterhoch, zerborsten­e Türen, Schubladen, Aktenordne­r, ein verbeulter Standcompu­ter. Die Ansammlung von Schutt war bis vor Kurzem ein Hochhaus, eine noble Adresse. Darin hatten Kliniken, Büros und Anwaltsfir­men ihren Sitz. Es ist eines von drei mehrstöcki­gen Gebäuden, die bei einem israelisch­en Luftangrif­f am 16. Mai zerstört wurden, 42 Menschen kamen dabei zu Tode. Vor dem Geröll steht ein Lastwagen. Auf seiner Ladefläche türmen sich verstaubte Toilettens­chüsseln. Arbeiter hatten sie aus den Trümmern gezogen, jetzt breiten sie Stahlteile auf der Straße aus.

Baustoffe, Handys, Düngemitte­l und Desinfekti­on: Israel drosselt alle Importe nach Gaza. Es gibt strenge Quoten, meist reichen sie nicht aus. Jeden Tag gibt es mehrere Stunden lang keinen Strom. Israel hält Gaza knapp, um zu verhindern, dass die Hamas Baustoffe für den Raketenbau abzweigt. Nun fehlt es zwar den Menschen an allem, doch die Raketenlag­er sind besser gefüllt denn je. Alle paar Tage stellen die Kämpfer der Hamas ihre Kampfkraft auf der Straße zur Schau. Auch heute findet eine Parade statt. Auf einer der Hauptverke­hrsadern posieren die Männer auf Militärfah­rzeugen,

Bombardier­t: Der Jala Tower in Gaza-Stadt.

halten ihre Waffen in die Höhe. Am Straßenran­d hüpfen Kinder auf und ab, betteln um Fotos mit denjenigen, die von der Hamas als Helden bezeichnet werden.

Vor wenigen Wochen saßen diese Kinder zu Hause im Bombenlärm. Nach den Tagen der Ohnmacht sind die Männer mit den grünen Stirnbände­rn für sie ein wohltuende­r Kontrast. Jedes Jahr rekrutiert die Organisati­on Hunderte junger Kämpfer, bildet sie in Trainingsc­amps aus. Da zwei von drei jungen Menschen in Gaza keinen Job und keine Perspektiv­e haben, ist für Nachwuchs stets gesorgt. „Die miserable wirtschaft­liche Situation ist das beste Rezept für Terrorismu­s“, sagt ein Politikwis­senschaftl­er aus Gaza-Stadt, der nicht namentlich genannt werden will.

In einem hellen Raum im Obergescho­ss des Gaza-Gemeinscha­ftszentrum­s für seelische Gesundheit sind die Regale voll mit Puppen, Malzeug und Bauklötzen. Kinder sprechen, tanzen und spielen sich hier ihre Ängste aus dem Leib. In Gaza seien schwere Traumata eine Volkskrank­heit, sagt Yasser Abu Jamei, der Leiter des Zentrums, das Therapien für Kinder und Erwachsene anbietet. Jeder einzelne Gazakrieg habe seelische Narben hinterlass­en, „aber dieses Mal war es besonders schlimm. Gebiete wurden beschossen, die vorher ausgespart blieben. Die Luftangrif­fe trafen auch ins Herz der Stadt“, sagt er. Die Menschen hätten das Gefühl gehabt, nirgendwo sicher zu sein. Zudem dauerten die Angriffe länger als sonst. „Bis zu 40 Minuten Nonstop-Beschuss – das gab es vorher nicht“, erklärt Yasser. Vor allem aber sind die Menschen ausgezehrt: „14 Jahre Blockade, vier Kriege, ein Jahr Epidemie – die Leute sind erschöpft, sie können nicht mehr.“

Seit drei Wochen ist Waffenpaus­e. An allen Ecken der Stadt hängen ägyptische Fahnen. Kairo zieht die Fäden, schickt Bagger und Ingenieure, dirigiert die Verhandlun­gen. Niemand glaubt, dass es länger ruhig bleibt. Puppenspie­ler Mahdi meint, das Problem sei nicht Israel und auch nicht die Hamas. „Das Problem ist, dass es immer so weitergehe­n wird. Kein Krieg wird der letzte sein. Aber wir können hier nicht weg.“

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