Thüringische Landeszeitung (Jena)
Sympathie für die Bestien In Gotha fasziniert die Ausstellung „Saurier – die Erfindung der Urzeit“. Aber warum?
Gotha. Sensationell ist das Unscheinbare, das Spektakuläre hingegen harmlos und das Vertraute in Wahrheit eine Provokation: So virtuos spielt die Jahresausstellung „Saurier – Die Erfindung der Urzeit“der Friedenstein-Stiftung Gotha mit den Erwartungen ihrer Besucher. Wer als Dino-Fan die Schau im Herzoglichen Museum nur durchstreift, um den Anblick Jahrmillionen alter Fossilien zu genießen, kommt gewiss auf seine Kosten, hat aber bloß oberflächlichen Erkenntnisgewinn.
Denn auf einer weit tiefgründigeren Ebene entführt Kurator Tom Hübner in ein spannendes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte. Er erzählt, wie sich über 200 Jahre hinweg unser Bild von der Urzeit-Fauna allmählich geformt und unterdessen immer wieder gewandelt hat. Bis heute wissen wir nicht exakt, wie die Leinwand-Stars aus „Jurassic Park“in natura aussahen: weil Homo sapiens erst gut 200.000 Jahre auf diesem Planeten zu Gast ist, die Dinosaurier indes vor rund 60 Millionen Jahren ausstarben.
Die Kuh der Kreidezeit
So bleiben alle Abbilder seit je nur Konstrukte einer prähistorisch fernen Wirklichkeit; Irrtümer bestehen zuhauf. Zum Beispiel der anatomisch korrekte Abguss eines Iguanodon-Skeletts, der am Eingang mit 2 Meter 80 Höhe und 8 Meter 40 Länge die Besucher begrüßt, mag zwar durch schiere Größe imponieren, und wir verspüren einen Schauder der Vergänglichkeit. Doch wäre jede anachronistische Furcht vor diesem friedlichen Pflanzenfresser, der „Kuh der Kreidezeit“, unangebracht.
Daneben zeigt Hübner einen ausgestopften Vogel Strauß unserer Tage als „größten heute lebenden Dino“. Man präge sich die Form seiner – durchaus wehrhaften – dreizehigen und bekrallten Füße ein; später begegnen wir diesem Modell in gewaltig vergrößerter Façon abermals: der 66 Millionen Jahre alten Pranke eines Tyrannosaurus Rex. Ein Glück, dass unsere Hühner – wie alle Vögel – von ihrem entwicklungsgeschichtlichen Urahn nichts wissen.
Anno 1710 beschreibt Christian Spener die 1706 im Schieferbergbau bei Kupfersuhl, heute Bad Salzungen, entdeckten Fossilienreste eines Protorosaurus. Einzuordnen wusste er dieses Tier nicht; erst gut 100 Jahre später, als man an der südenglischen Jurassic Coast 1824 Reste eines Megalosaurus und 1825 die eines Iguanodons fand, dämmerte die Idee von „vorsintflutlichen“Wesen.
Da galt die biblische Schöpfungsgeschichte noch als Standard; von Darwins Evolutionstheorie 1859 keine Rede. Trotzdem brach der erste „Dino-Hype“los, weil sich der Mensch ja ein Bild macht.
„Wie wir die Vergangenheit des Lebens verstehen, ist eher eine Konsequenz der Kunst als der Wissenschaft“, zitiert Hübner den großen Paläontologen-Kollegen Stephen
Jay Gould und dekliniert dieses Wechselspiel von Entdeckungsgeschichte und Hypothesen über Aussehen und Lebensweise ausgestorbener Tiere am Beispiel des Iguanodons ausführlich durch. Mal wähnte man, es sei wie ein Reptil am Boden gekrochen, mal stellte man es sich auf zwei Füßen aufgerichtet vor, und heute wissen wir, dass es sich auf vier Beinen bewegte.
Längst ist auch der kuriose Nasenhöcker verschwunden.
Für ebenso wichtig wie die Ausgräber hält Hübner ihre Interpreten, die visionären Zeichner und Maler der Urzeit-Tierwelten; mit Henry Thomas de la Bèche 1830 datiert er den Beginn der Paläo-Kunst. In Jules Vernes Scifi-Roman „Reise zum Mittelpunkt der Erde“fantasieren wir den archaischen Kampf zwischen Fischsaurier und Paddelechse, nach der Londoner Weltausstellung 1851 bevölkern DinoSkulpturen den Crystal Park, und um diese Zeit kauft auch Gothas Herzog ein Fischsaurier-Fossil für seine Sammlung.
Wir durchwandern das Gothaer Bestiarium, bestaunen einen Flugsaurier aus dem Solnhofener Plattenkalk, Thüringer Ammoniten, eine Hildburghäuser ChirotheriumFährte ebenso wie Zdeněk Burians Dino-Gemälde aus dem DDR-zeitlichen Klassiker „Weltall Erde Mensch“in einer überbordenden Fülle aus 140 Exponaten. Steven Spielbergs „Jurassic Park“kommt als Kinoplakat vor, und – „das irre Kulturphänomen“– präsentiert eine Herde Plüsch-Dinos im Kinderzimmer. Lauter Paläo-Kunst.
Ursaurier als stille Sensation
Die Sensation der Schau kommt bescheiden zum Schluss: OriginalSkelette von Ursauriern aus dem Thüringer Wald, ziemlich rätselvoll und weit älter als alle Dinos. Rund 300 Millionen Jahre hat der noch niemals öffentlich gezeigte Martensius Bromackerensis auf den im Rotliegenden versteinerten, mühsam herauspräparierten Knochen, ebenso wie die beiden als „Tambacher Liebespaar“bekannten Seymouria-Exemplare oder ein vollständiges Orobates-Fossil.
Noch wissen wir viel zu wenig über diese vermeintlich unscheinbaren, bloß schäferhundgroßen Tiere, und was fehlt – die visionären Bildnisse – hat der Kurator per Paläo-Kunstwettbewerb nachholen lassen. So bietet die Gothaer Schau viel Reiz für die ganze Familie – von Pomp und Plüsch bis hin zu buchstäblich beinharter Wissenschaft.