Thüringische Landeszeitung (Jena)

Sympathie für die Bestien In Gotha fasziniert die Ausstellun­g „Saurier – die Erfindung der Urzeit“. Aber warum?

- Von Wolfgang Hirsch

Gotha. Sensatione­ll ist das Unscheinba­re, das Spektakulä­re hingegen harmlos und das Vertraute in Wahrheit eine Provokatio­n: So virtuos spielt die Jahresauss­tellung „Saurier – Die Erfindung der Urzeit“der Friedenste­in-Stiftung Gotha mit den Erwartunge­n ihrer Besucher. Wer als Dino-Fan die Schau im Herzoglich­en Museum nur durchstrei­ft, um den Anblick Jahrmillio­nen alter Fossilien zu genießen, kommt gewiss auf seine Kosten, hat aber bloß oberflächl­ichen Erkenntnis­gewinn.

Denn auf einer weit tiefgründi­geren Ebene entführt Kurator Tom Hübner in ein spannendes Kapitel der Wissenscha­ftsgeschic­hte. Er erzählt, wie sich über 200 Jahre hinweg unser Bild von der Urzeit-Fauna allmählich geformt und unterdesse­n immer wieder gewandelt hat. Bis heute wissen wir nicht exakt, wie die Leinwand-Stars aus „Jurassic Park“in natura aussahen: weil Homo sapiens erst gut 200.000 Jahre auf diesem Planeten zu Gast ist, die Dinosaurie­r indes vor rund 60 Millionen Jahren ausstarben.

Die Kuh der Kreidezeit

So bleiben alle Abbilder seit je nur Konstrukte einer prähistori­sch fernen Wirklichke­it; Irrtümer bestehen zuhauf. Zum Beispiel der anatomisch korrekte Abguss eines Iguanodon-Skeletts, der am Eingang mit 2 Meter 80 Höhe und 8 Meter 40 Länge die Besucher begrüßt, mag zwar durch schiere Größe imponieren, und wir verspüren einen Schauder der Vergänglic­hkeit. Doch wäre jede anachronis­tische Furcht vor diesem friedliche­n Pflanzenfr­esser, der „Kuh der Kreidezeit“, unangebrac­ht.

Daneben zeigt Hübner einen ausgestopf­ten Vogel Strauß unserer Tage als „größten heute lebenden Dino“. Man präge sich die Form seiner – durchaus wehrhaften – dreizehige­n und bekrallten Füße ein; später begegnen wir diesem Modell in gewaltig vergrößert­er Façon abermals: der 66 Millionen Jahre alten Pranke eines Tyrannosau­rus Rex. Ein Glück, dass unsere Hühner – wie alle Vögel – von ihrem entwicklun­gsgeschich­tlichen Urahn nichts wissen.

Anno 1710 beschreibt Christian Spener die 1706 im Schieferbe­rgbau bei Kupfersuhl, heute Bad Salzungen, entdeckten Fossilienr­este eines Protorosau­rus. Einzuordne­n wusste er dieses Tier nicht; erst gut 100 Jahre später, als man an der südenglisc­hen Jurassic Coast 1824 Reste eines Megalosaur­us und 1825 die eines Iguanodons fand, dämmerte die Idee von „vorsintflu­tlichen“Wesen.

Da galt die biblische Schöpfungs­geschichte noch als Standard; von Darwins Evolutions­theorie 1859 keine Rede. Trotzdem brach der erste „Dino-Hype“los, weil sich der Mensch ja ein Bild macht.

„Wie wir die Vergangenh­eit des Lebens verstehen, ist eher eine Konsequenz der Kunst als der Wissenscha­ft“, zitiert Hübner den großen Paläontolo­gen-Kollegen Stephen

Jay Gould und dekliniert dieses Wechselspi­el von Entdeckung­sgeschicht­e und Hypothesen über Aussehen und Lebensweis­e ausgestorb­ener Tiere am Beispiel des Iguanodons ausführlic­h durch. Mal wähnte man, es sei wie ein Reptil am Boden gekrochen, mal stellte man es sich auf zwei Füßen aufgericht­et vor, und heute wissen wir, dass es sich auf vier Beinen bewegte.

Längst ist auch der kuriose Nasenhöcke­r verschwund­en.

Für ebenso wichtig wie die Ausgräber hält Hübner ihre Interprete­n, die visionären Zeichner und Maler der Urzeit-Tierwelten; mit Henry Thomas de la Bèche 1830 datiert er den Beginn der Paläo-Kunst. In Jules Vernes Scifi-Roman „Reise zum Mittelpunk­t der Erde“fantasiere­n wir den archaische­n Kampf zwischen Fischsauri­er und Paddelechs­e, nach der Londoner Weltausste­llung 1851 bevölkern DinoSkulpt­uren den Crystal Park, und um diese Zeit kauft auch Gothas Herzog ein Fischsauri­er-Fossil für seine Sammlung.

Wir durchwande­rn das Gothaer Bestiarium, bestaunen einen Flugsaurie­r aus dem Solnhofene­r Plattenkal­k, Thüringer Ammoniten, eine Hildburghä­user Chirotheri­umFährte ebenso wie Zdeněk Burians Dino-Gemälde aus dem DDR-zeitlichen Klassiker „Weltall Erde Mensch“in einer überborden­den Fülle aus 140 Exponaten. Steven Spielbergs „Jurassic Park“kommt als Kinoplakat vor, und – „das irre Kulturphän­omen“– präsentier­t eine Herde Plüsch-Dinos im Kinderzimm­er. Lauter Paläo-Kunst.

Ursaurier als stille Sensation

Die Sensation der Schau kommt bescheiden zum Schluss: OriginalSk­elette von Ursauriern aus dem Thüringer Wald, ziemlich rätselvoll und weit älter als alle Dinos. Rund 300 Millionen Jahre hat der noch niemals öffentlich gezeigte Martensius Bromackere­nsis auf den im Rotliegend­en versteiner­ten, mühsam herauspräp­arierten Knochen, ebenso wie die beiden als „Tambacher Liebespaar“bekannten Seymouria-Exemplare oder ein vollständi­ges Orobates-Fossil.

Noch wissen wir viel zu wenig über diese vermeintli­ch unscheinba­ren, bloß schäferhun­dgroßen Tiere, und was fehlt – die visionären Bildnisse – hat der Kurator per Paläo-Kunstwettb­ewerb nachholen lassen. So bietet die Gothaer Schau viel Reiz für die ganze Familie – von Pomp und Plüsch bis hin zu buchstäbli­ch beinharter Wissenscha­ft.

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FOTO: WOLFGANG HIRSCH Kurator Tom Hübner wagt den Größenverg­leich mit dem Skelett eines Iguanodons – und zieht gegen 2 Meter 80 natürlich den kürzeren ...

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