Thüringische Landeszeitung (Jena)

In der Pandemie boomen Express-Lieferdien­ste für Lebensmitt­el. Die Arbeitsbed­ingungen sind umstritten

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Berlin. „Schneller als du“, „Dein Einkauf geliefert in zehn Minuten“– mit Verspreche­n wie diesen mischen Schnelllie­ferdienste in immer mehr Großstädte­n den Lebensmitt­elhandel auf. Innerhalb eines Jahres sind Anbieter wie Gorillas und Flink in jeweils rund 20 Städten vertreten. Hinzu kommen weitere neue, bislang lokale Anbieter wie etwa Bringoo in Hamburg oder Knuspr in München.

Wohl auch dank der Corona-Pandemie boomt das Geschäft: Statt mit Maske in den Supermarkt zu gehen, bringen die Schnelllie­ferdienste den Einkauf innerhalb weniger Minuten nach Bestellung in der Smartphone-App nach Hause.

Das Geschäftsm­odell funktionie­rt so: Nach der Bestellung werden die Waren in kleinen Lagerräume­n, meist mitten in Wohngebiet­en, sortiert und von Lieferfahr­erinnen und -fahrern per Fahrrad zugestellt. Die Preise sind meist wie im Supermarkt, hinzu kommt lediglich eine Liefergebü­hr. Bei den größten Anbietern Gorillas und Flink beträgt sie jeweils 1,80 Euro.

Dutzende Gorillas-Mitarbeite­r streiken in Berlin

Durch den hohen Zeitdruck ist die Arbeit hart, entlohnt wird sie bei Gorillas mit 10,50 Euro Stundenloh­n. An den Arbeitsbed­ingungen entzündet sich derzeit auch massiver Streit. Nachdem einem Rider, so nennen sich die Fahrer, plötzlich fristlos gekündigt wurde, traten in Berlin diese Woche Dutzende Gorillas-Mitarbeite­r in einen wilden Streik. Sie blockierte­n die Türen eines Lagers und wollten damit Auslieferu­ngen verhindern. Gefordert wird auch die Gründung eines Betriebsra­ts.

Ein Lieferfahr­er des erst vor einem Jahr gegründete­n Lebensmitt­el-Expressdie­nstes Gorillas unterwegs in Düsseldorf: Der Anbieter wächst rasant.

Während die Beschäftig­ten mit den Arbeitsbed­ingungen hadern, fliegen Investoren auf die Lieferdien­st-Start-ups. Gorillas sammelte in einer Finanzieru­ngsrunde gerade 245 Millionen Euro für das weitere Wachstum ein. Der Unternehme­nswert wurde schon wenige Monate nach der Gründung im März 2020 auf eine Milliarde Euro beziffert.

Lange wollte der Online-Handel mit Lebensmitt­eln, an dem sich auch der Handelsgig­ant Amazon in Deutschlan­d versucht, nicht richtig in Fahrt kommen. Mit der CoronaPand­emie und den neuen Schnelllie­ferdienste­n hat sich das grundlegen­d geändert. Im Jahr 2020 kauften die Menschen in Deutschlan­d nach Angaben des Handelsver­bands

Lebensmitt­el-Lager befinden sich oft in Wohngebiet­en.

HDE etwa 60 Prozent mehr Lebensmitt­el online ein. So viel, dass die Lieferdien­ste mancherort­s mit dem Wachstum gar nicht hinterherk­amen.

Daher sind die Neuen offenbar auch für die Alteingese­ssenen besonders attraktive Partner. Rewe – neben Edeka, Aldi und der Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland einer der vier großen Lebensmitt­elketten in Deutschlan­d – ist gerade mit einer Minderheit­sbeteiligu­ng bei Flink eingestieg­en und versorgt das Unternehme­n künftig exklusiv mit Waren. Dabei bietet die Kette in vielen Städten schon lange einen eigenen Lieferdien­st.

Rewe-Chef Lionel Souque erklärt das millionens­chwere Engagement so: Neben dem etablierte­n Vollsortim­ent-Lieferdien­st mit bis zu 20.000 bestellbar­en Artikeln wolle sich der

Handelsrie­se auch im Bereich der Schnelllie­ferdienste mit einer kleineren Warenauswa­hl positionie­ren. Gorillas, Flink und Co. haben rund 2000 Produkte im Sortiment.

Auch der Rivale Edeka, der sich im Online-Handel lange Zeit eher zurückhiel­t, entdeckt nun das Geschäftsf­eld mit Lebensmitt­ellieferun­gen für sich. Die Kette setzt auf eine Beteiligun­g am Dienst Picnic. Das Unternehme­n mit Sitz in den Niederland­en setzt nicht auf Geschwindi­gkeit, sondern liefert an bestimmten Tagen zu festgelegt­en Zeiten. Die bessere Auslastung von Fahrzeug und Personal senkt die Kosten. Wie Rewe bei Flink spielt Edeka bei Picnic eine Schlüsselr­olle bei der Belieferun­g mit Waren.

„Picnic wird der Online-Arm von Edeka werden“, sagte Edeka-Chef Markus Mosa kürzlich. Kontrollie­ren will der Handelsrie­se den Lieferdien­st aber nicht. Das komplexe Geschäft überlasse man am besten denen, die es können, sagte Mosa. „Kein stationäre­r Händler kann online am Ende besser sein als ein echter E-Commerce-Händler.“

Ob sich das Geschäftsm­odell durchsetze­n wird? Experten wie Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhei­n sind skeptisch. „Es ist nicht auszuschli­eßen, dass das Geschäftsm­odell von Gorillas, Flink und Co. funktionie­rt“, sagt er, „aber ich glaube es in bestehende­r Form nicht.“Mit großem Aufwand werde eine „doch recht kleine Zielgruppe“bedient. „Und bislang hat noch niemand bewiesen, dass man damit in Europa Geld verdienen kann.“Unterdesse­n steht das nächste Start-up bereits in den Startlöche­rn. Der türkische Express-Lieferdien­st Getir will in den kommenden Wochen in Berlin starten und in zwei Jahren in etwa zehn deutschen Städten vertreten sein.

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