Thüringische Landeszeitung (Jena)
„Die Lebensleistung Ostdeutscher muss anerkannt werden“
VW-Vorständin Hiltrud Werner, die in Thüringen gelebt hat, über Identität und Skandale
Erfurt. Hiltrud Dorothea Werner ist derzeit nicht gut zu Fuß. Nach einer Knie-OP müssen noch einige Tage zwei Krücken helfen. Sitzend berichtet die 55-Jährige in ihrem Büro in der VW-Zentrale in Wolfsburg darüber, dass sie kürzlich bei ihrer Mutter in Weimar war, demnächst einen Besuch der Bundesgartenschau plant. Hiltrud Werner ist in Bad Doberan geboren, in Apolda aufgewachsen. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften stieg sie im Westen kontinuierlich die Karriereleiter nach oben. Seit Februar 2017 gehört Hiltrud Werner zum Konzernvorstand von Volkswagen. Die Managerin ist verantwortlich für das Ressort Integrität und Recht, das im Rahmen des Dieselskandals geschaffen wurde. Über diesen hat die ehemalige Näherin ein Buch veröffentlicht.
Wer so eine Krise erlebt, der muss umdenken. Der Untertitel lautet aber auch „Wie man Krise als Chance nutzt und sich an Integrität und Compliance ausrichtet“. Wir haben genau das getan und sind nach wie vor dabei, unsere Lehren zu ziehen.
Man braucht eine offene Diskussionskultur, die das Management dazu zwingt, Bedenken, egal von wem geäußert, ernst zu nehmen. Notwendig sind zudem eine Unabhängigkeit von prüfenden Bereichen und ein gutes Frühwarnsystem.
Nein, daran waren auch Frauen beteiligt. Insgesamt wurde aufgezeigt, dass es in bestimmten Konzernbereichen zu wenig Kommunikation und Offenheit gab, einen zu kleinen Raum für Widerspruch.
Ich sage, was ich denke, fühle mich im Vorstand auch gleichberechtigt. In der DDR waren das Geschlecht oder die regionale Herkunft nie ein Thema. Wir müssen wieder da hinkommen, dass das keine Relevanz
hat, dass das stereotype Denken aufhört.
Es muss alles dafür getan werden, dass sich das ändert. Im Osten sind nach dem Mauerfall viele Industriezweige verschwunden. Die Digitalisierung bietet Möglichkeiten, dort wieder hoch qualifizierte Arbeitsplätze anzusiedeln.
In der heutigen Zeit braucht es vor allem ein hohes Maß an Flexibilität. Dazu gilt es, Erfahrungen zu sammeln, sich ausprobieren, auch Fachbereiche und Länder zu wechseln. Das ist für Menschen schwierig, zumal beispielsweise alle Dax-Konzerne ihre Zentralen in Westdeutschland haben und ein Verbleiben oder eine Rückkehr in die Heimat so erschwert ist. Aber auch im Osten sind ja unverständlicherweise rund 80 Prozent der Leitungsfunktionen von Westdeutschen besetzt.
Auch dank der exzellenten Ausbildung in der DDR. Mir wurde schnell klar, dass ich mit den Kolleginnen und Kollegen, die an westlichen Unis studiert hatten, konkurrieren kann. Ich habe mir Neues zugetraut und war bereit, Risiken einzugehen. 1991 bin ich nach München gewechselt, war anfangs in einer IT-Firma die einzige Frau mit kleinem Kind von 850 Beschäftigten, die voll berufstätig gearbeitet hat. Und da mein Mann noch in Thüringen gelebt hat, bin ich ständig gependelt und habe auch in internationalen Projekten gearbeitet. Einfach war das nicht, aber unglaublich herausfordernd. 17 Millionen Menschen besitzen Transformations-Kompetenz, sie haben gelernt, mit widrigen Umständen klarzukommen, eine friedliche Revolution geschafft, ihre Identität bewahrt, einen heftigen Wandel bewältigt. Doch für viele haben sich bis heute Geduld und Leidensfähigkeit nicht wie erträumt gelohnt, obwohl sie eine immense Lebensleistung vollbracht haben. Diese sollte endlich umfassend und gerecht anerkannt werden.
Ich weiß nicht, ob es noch ein Land auf der Welt gibt, wo es zwar einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, der aber – je nach Region – unterschiedlich hoch ist. Auch ein Rentenpunkt wird unterschiedlich berechnet. Wie kann es sein, dass sich in Ostdeutschland Industrie nicht ansiedeln will, es keinen Kostenvorteil gibt, gleichzeitig aber teure Städte im Westen trotzdem boomen und dort neue Arbeitsplätze entstehen? Wenn dies auf Nachteile in der Infrastruktur zurückzuführen ist, dann ist die Lenkungswirkung der Politik gefragt.
Ich glaube, dass in der Politik diesbezüglich eine gute Repräsentanz aller selbstverständlich sein sollte, auch ohne Quoten. Zumal ja allein die Definition schon schwierig ist.
Erst kürzlich für meine Tochter, die in Göteborg studiert. Ich fuhr zu ihr, mit der Nähmaschine im Auto, habe die Fenster abgemessen und ihr für das Zimmer im Studentenwohnheim Gardinen genäht. Bevor ich wieder auf der Fähre war, hingen sie schon. Das rund 200-seitige Werk heißt „Neue Leitplanken“. Waren die alten für VW verschlissen? Die da wären? War der Diesel-Skandal ein Männer-Skandal? Können Sie den im mächtigen VWVorstand äußern? Und ist es für Sie problematischer, als einzige Frau oder als einzige Ostdeutsche dort zu sitzen? Zwei Drittel fühlen sich laut Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“noch immer als Menschen zweiter Klasse. Sind Sie für eine Ost-Quote in bestimmten Bereichen? Sie waren im ersten Beruf mal Näherin. Wann haben Sie das letzte Mal genäht? Eine Studie der Uni Leipzig bezeugt, dass nur rund vier Prozent der Elitepositionen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft mit ehemaligen DDR-Bürgern besetzt sind. Warum machen so wenige Karriere, was benötigt man dafür? Sie sind oben angekommen. Können Ostdeutsche auf Besonderheiten bauen, die sie von Westdeutschen unterscheiden? Inwiefern?