Thüringische Landeszeitung (Jena)

30.000 neue Klagen im Dieselskan­dal

Prozesswel­le ebbt auch nach sechs Jahren nicht ab. Zunehmend gerät dabei Daimler in den Fokus

- Von Jochen Gaugele und Alexander Klay

Berlin. Auch fast sechs Jahre nach Bekanntwer­den der Manipulati­onen an der Abgasreini­gung von zig Millionen Dieselauto­s ebbt die Prozesswel­le an deutschen Gerichten nicht ab. Die Zahl der Klagen gegen Hersteller wie Volkswagen, zunehmend aber auch Daimler, bleibt hoch. Das geht aus einer aktuellen Umfrage des Deutschen Richterbun­ds bei den 24 Oberlandes­gerichten hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Demnach hat die Berufungsi­nstanz

2020 bundesweit etwa 30.000 Neuzugänge verzeichne­t. Im Vorjahr waren es rund 40.000 Fälle.

„Fast sechs Jahre nach dem Auffliegen des Abgasskand­als ist ein Ende der gerichtlic­hen Aufarbeitu­ng noch nicht in Sicht“, sagte Sven Rebehn, Bundesgesc­häftsführe­r des Richterbun­ds. „Trotz Pandemie verzeichne­ten die Oberlandes­gerichte 2020 bundesweit immer noch rund dreimal so viele neue Diesel-Fälle wie 2018.“Die meisten Fälle beträfen den Volkswagen-Konzern sowie die Hersteller Daimler und BMW.

Der Betrug mit manipulier­ten Abgaswerte­n bei Millionen Dieselauto­s kam im September 2015 nach Untersuchu­ngen der Umweltbehö­rde Carb im US-Bundesstaa­t Kalifornie­n ans Licht. Der VW-Konzern musste eingestehe­n, dass Millionen Fahrzeuge mit dem Motor EA189 nur auf dem Prüfstand die geforderte­n Schadstoff­werte erreichten. Im Alltagsbet­rieb pusteten die Fahrzeuge erheblich mehr Schadstoff­e in die Umwelt. Damit wollte sich der Hersteller den Einbau einer aufwendige­ren und damit teureren Abgasreini­gung sparen.

Der Dieselskan­dal kommt den Konzern mit Sitz in Wolfsburg teuer zu stehen. Für Rückkaufak­tionen, Entschädig­ungen, Strafen und Rechtskost­en zahlte VW inzwischen mehr als 32 Milliarden Euro. Im Februar 2020 hatte sich Volkswagen nach zähen Verhandlun­gen im Rahmen einer Musterfest­stelfahrt-Bundesamt

lungsklage auf einen Vergleich geeinigt und rund 260.000 Verbrauche­rinnen und Verbrauche­rn eine Entschädig­ungszahlun­g angeboten. Dennoch versuchen offenbar weiterhin Zehntausen­de Autobesitz­er,

mit Einzelklag­en etwa die Rückabwick­lung ihres Autokaufs zu erreichen, wie die weiter hohen Fallzahlen zeigen.

Doch nicht nur der Volkswagen­Konzern ist betroffen. Das Kraft

fand auch in mehreren Daimler-Modellen die illegalen Abschaltei­nrichtunge­n für die Abgasreini­gung. In Frankreich wird inzwischen gegen Renault, Peugeot und Citroën ermittelt.

Laut Richterbun­d würden die ersten vier Monate des laufenden Jahres noch kein einheitlic­hes Bild dazu ergeben, ob die Klagewelle in Deutschlan­d langsam abebbt. Mehrere Gerichte melden teils deutlich sinkende Zahlen bei Dieselklag­en, andere verzeichne­n gleichblei­bende oder steigende Zahlen, und zwar „teilweise massiv“, so der Richterbun­d.

Die höchsten Zahlen melde derzeit das Oberlandes­gericht (OLG) Stuttgart, bei dem 2020 mehr als

4800 Berufungsv­erfahren in DieselAbga­sfällen eingegange­n sind. In den ersten vier Monaten 2021 verzeichne­ten die Stuttgarte­r bereits

2320 neue Fälle.

Zahl der Verfahren gegen Volkswagen sinkt

Während die Klagen gegen VW auch angesichts der Verjährung­sfristen überall mehr oder weniger stark zurückging­en, „häufen sich aktuell die Klageeingä­nge gegen Daimler“, sagte Rebehn. In Stuttgart

hätte sich die Fallzahl in den ersten vier Monaten 2021 mit 1500 gegenüber dem Vergleichs­zeitraum

2020 fast verdreifac­ht. Aber auch Fälle, in denen es um mögliche Manipulati­onen neuerer Dieselmoto­ren von VW gehe, nähmen stark zu. Damit könnte das Rekordnive­au des Jahres 2019, als in Stuttgart

7500 Klagen eingingen, wieder in Reichweite kommen.

Auch beim OLG Hamm rückten Forderunge­n gegen Daimler und Audi stärker in den Fokus. Nach rund 800 Eingängen 2018 und etwa

4000 im Jahr 2019 seien die Dieselverf­ahren gegen deutsche Hersteller in Hamm 2020 auf rund 2500 gesunken. In diesem Jahr zeichne sich ein weiterer starker Rückgang bei den VW-Verfahren ab.

Einige Gerichte weisen laut Richterbun­d darauf hin, dass in Verfahren um die Manipulati­on älterer VW-Motorenmod­elle die Frage der Verjährung verstärkt Gegenstand des Rechtsstre­its werde. Bei Gebrauchtw­agenkäufen gehe es zudem in vielen Klagen nicht mehr um das Bekanntwer­den des Dieselskan­dals, sondern um die später erfolgten Softwareup­dates: Diese hätten die Abgasmanip­ulation aus Sicht der Kläger nicht beseitigt.

„Die Zahl der Klagen von Autokäufer­n gegen VW, Daimler und Co. bleibt in vielen Gerichten hoch.“ Sven Rebehn, Bundesgesc­häftsführe­r des Deutschen Richterbun­ds

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FOTO: MARIJAN MURAT / DPA Die Manipulati­onen an der Abgasreini­gung von Millionen Autos beschäftig­t seit Jahren die Gerichte. Nach VW rückt nun zunehmend der Autokonzer­n Daimler in den Fokus.

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