Thüringische Landeszeitung (Jena)
30.000 neue Klagen im Dieselskandal
Prozesswelle ebbt auch nach sechs Jahren nicht ab. Zunehmend gerät dabei Daimler in den Fokus
Berlin. Auch fast sechs Jahre nach Bekanntwerden der Manipulationen an der Abgasreinigung von zig Millionen Dieselautos ebbt die Prozesswelle an deutschen Gerichten nicht ab. Die Zahl der Klagen gegen Hersteller wie Volkswagen, zunehmend aber auch Daimler, bleibt hoch. Das geht aus einer aktuellen Umfrage des Deutschen Richterbunds bei den 24 Oberlandesgerichten hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Demnach hat die Berufungsinstanz
2020 bundesweit etwa 30.000 Neuzugänge verzeichnet. Im Vorjahr waren es rund 40.000 Fälle.
„Fast sechs Jahre nach dem Auffliegen des Abgasskandals ist ein Ende der gerichtlichen Aufarbeitung noch nicht in Sicht“, sagte Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Richterbunds. „Trotz Pandemie verzeichneten die Oberlandesgerichte 2020 bundesweit immer noch rund dreimal so viele neue Diesel-Fälle wie 2018.“Die meisten Fälle beträfen den Volkswagen-Konzern sowie die Hersteller Daimler und BMW.
Der Betrug mit manipulierten Abgaswerten bei Millionen Dieselautos kam im September 2015 nach Untersuchungen der Umweltbehörde Carb im US-Bundesstaat Kalifornien ans Licht. Der VW-Konzern musste eingestehen, dass Millionen Fahrzeuge mit dem Motor EA189 nur auf dem Prüfstand die geforderten Schadstoffwerte erreichten. Im Alltagsbetrieb pusteten die Fahrzeuge erheblich mehr Schadstoffe in die Umwelt. Damit wollte sich der Hersteller den Einbau einer aufwendigeren und damit teureren Abgasreinigung sparen.
Der Dieselskandal kommt den Konzern mit Sitz in Wolfsburg teuer zu stehen. Für Rückkaufaktionen, Entschädigungen, Strafen und Rechtskosten zahlte VW inzwischen mehr als 32 Milliarden Euro. Im Februar 2020 hatte sich Volkswagen nach zähen Verhandlungen im Rahmen einer Musterfeststelfahrt-Bundesamt
lungsklage auf einen Vergleich geeinigt und rund 260.000 Verbraucherinnen und Verbrauchern eine Entschädigungszahlung angeboten. Dennoch versuchen offenbar weiterhin Zehntausende Autobesitzer,
mit Einzelklagen etwa die Rückabwicklung ihres Autokaufs zu erreichen, wie die weiter hohen Fallzahlen zeigen.
Doch nicht nur der VolkswagenKonzern ist betroffen. Das Kraft
fand auch in mehreren Daimler-Modellen die illegalen Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung. In Frankreich wird inzwischen gegen Renault, Peugeot und Citroën ermittelt.
Laut Richterbund würden die ersten vier Monate des laufenden Jahres noch kein einheitliches Bild dazu ergeben, ob die Klagewelle in Deutschland langsam abebbt. Mehrere Gerichte melden teils deutlich sinkende Zahlen bei Dieselklagen, andere verzeichnen gleichbleibende oder steigende Zahlen, und zwar „teilweise massiv“, so der Richterbund.
Die höchsten Zahlen melde derzeit das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart, bei dem 2020 mehr als
4800 Berufungsverfahren in DieselAbgasfällen eingegangen sind. In den ersten vier Monaten 2021 verzeichneten die Stuttgarter bereits
2320 neue Fälle.
Zahl der Verfahren gegen Volkswagen sinkt
Während die Klagen gegen VW auch angesichts der Verjährungsfristen überall mehr oder weniger stark zurückgingen, „häufen sich aktuell die Klageeingänge gegen Daimler“, sagte Rebehn. In Stuttgart
hätte sich die Fallzahl in den ersten vier Monaten 2021 mit 1500 gegenüber dem Vergleichszeitraum
2020 fast verdreifacht. Aber auch Fälle, in denen es um mögliche Manipulationen neuerer Dieselmotoren von VW gehe, nähmen stark zu. Damit könnte das Rekordniveau des Jahres 2019, als in Stuttgart
7500 Klagen eingingen, wieder in Reichweite kommen.
Auch beim OLG Hamm rückten Forderungen gegen Daimler und Audi stärker in den Fokus. Nach rund 800 Eingängen 2018 und etwa
4000 im Jahr 2019 seien die Dieselverfahren gegen deutsche Hersteller in Hamm 2020 auf rund 2500 gesunken. In diesem Jahr zeichne sich ein weiterer starker Rückgang bei den VW-Verfahren ab.
Einige Gerichte weisen laut Richterbund darauf hin, dass in Verfahren um die Manipulation älterer VW-Motorenmodelle die Frage der Verjährung verstärkt Gegenstand des Rechtsstreits werde. Bei Gebrauchtwagenkäufen gehe es zudem in vielen Klagen nicht mehr um das Bekanntwerden des Dieselskandals, sondern um die später erfolgten Softwareupdates: Diese hätten die Abgasmanipulation aus Sicht der Kläger nicht beseitigt.
„Die Zahl der Klagen von Autokäufern gegen VW, Daimler und Co. bleibt in vielen Gerichten hoch.“ Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds