Thüringische Landeszeitung (Jena)
Die Grünen geben sich auf ihrem Parteitag betont anschlussfähig – doch die Union erteilt dem Programm eine Absage. CDU-Chef Laschet wünscht sich ein anderen Partner
Berlin. Falls sie sich im Willy-BrandtHaus auf scharfe Attacken aus dem Grünen-Parteitag heraus vorbereitet hatten, haben sie darauf vergebens gewartet. Kein Wort in Richtung SPD, kein Angriff, keine Einladung, gar nichts. Die Sozialdemokraten, das wurde beim Online-Delegiertentreffen am Wochenende klar, sieht man bei den Grünen kaum noch als Gegner. Vielmehr will man der SPD offenbar den Staffelstab und die Wählerstimmen abnehmen. Die Grünen wollen die neue linke Volkspartei sein – und ihre erste Kanzlerin soll Annalena Baerbock werden.
Mit 98,5 Prozent stimmte der Parteitag für sie als Kanzlerkandidatin und gemeinsam mit Robert Habeck als Spitzenteam für die Bundestagswahl. Es war ein deutliches Signal, dass die Partei hinter der eigenen Frontfrau steht, auch wenn die in den vergangenen Wochen – unter anderem wegen eigener Fehler – stark unter Beschuss geraten war.
Baerbock machte klar, dass der Kampf ums Kanzleramt aus Sicht der Grünen gerade erst beginnt. Nachdem Habeck am Freitag in seiner Eröffnungsrede über Klimaschutz als Voraussetzung für Freiheit gesprochen hatte, ging es bei Baerbocks erster Rede als offizielle Kanzlerkandidatin am Samstag viel um die konkrete Umsetzung der Grünen-Pläne.
Ziel sei es, „klimagerechten Wohlstand“zu schaffen, sagte sie. „Eine neue soziale Marktwirtschaft ist eine sozial-ökologische Marktwirtschaft.“Mit Betonung auf sozial: Nachdem vor allem die politische Konkurrenz die Grünen als Partei der Besserverdienenden dargestellt hatte, hob Baerbock hervor, wie die Partei dafür sorgen will, dass auf dem Weg zur klimaneutralen Wirtschaft niemand auf der Strecke bleibt. Sie erinnerte an das geplante Energiegeld, mit dem Einnahmen aus dem CO2-Preis verteilt werden sollen, und an Vorschläge wie das Transformationskurzarbeitergeld.
Kein Zufall, dass es in der Rede auch um Respekt für „Kohlekumpel“, „Pendlerinnen“und „Stahlarbeiter“ging. Aus dem Umbruch müsse ein Aufbruch gemacht werden, sagte Baerbock, „und zwar für alle“.
Auch das am Sonntag endgültig beschlossene Wahlprogramm soll der Partei schärfere soziale Konturen geben und den Anspruch auf die Rolle der linken Volkspartei unterstreichen. In den Wahlkampf ziehen die Grünen unter anderem mit der Forderung nach 12 Euro Mindestlohn, einer sanktionsfreien Garantie-Sicherung, die das Hartz-IVSystem ersetzen soll, einer Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um mindestens 50 Euro als Sofortmaßnahme und einer Kindergrundsicherung. Spitzenverdiener sollen dafür mehr zahlen, der Spitzensteuersatz soll auf 48 Prozent steigen.
Ins Programm kommt nichts, was radikal aussehen könnte Gleichzeitig war – nach den scharfen Attacken der vergangenen Wochen – offenbar auch der Parteibasis klar, dass nicht zu weit links kippen darf, wer viele neue Wählerinnen und Wähler erreichen will. Diszipliniert und mit großen Mehrheiten stimmten die Delegierten deshalb alles vom Tisch, was an die alte Rolle als Nischenpartei erinnern könnte.
Das Ergebnis des Wochenendes ist ein Programm, das eine linke Handschrift trägt, aber keine unüberwindbaren Barrieren aufbaut zur
Union, die in diesem Wahlkampf gleichzeitig Hauptgegner und wahrscheinlichster Koalitionspartner nach September ist.
Wie viel bei einem solchen Bündnis von den gerade erst getroffenen Beschlüssen der Grünen übrig bleiben würde, ist freilich offen. CDUChef und Unionskanzlerkandidat Armin Laschet erteilte zentralen Forderungen der Partei jedenfalls in der „Bild am Sonntag“schon einmal präventiv eine Absage. Kein höherer Mindestlohn, keine höheren Steuern für Top-Verdiener, keine Solaranlagenpflicht auf Neubauten.
Stattdessen warb Laschet für eine höhere Pendlerpauschale und Freibeträge für Menschen, die zum ersten Mal Wohneigentum kaufen. Und eigentlich wäre ihm die FDP als einziger Koalitionspartner sowieso lieber – die stünde der Union „inhaltlich deutlich näher als die Grünen“.
Wenn es im Herbst trotzdem zu einem Bündnis von Grünen und Union kommen sollte, wird eine Seite ihre Vorstellungen deutlich anpassen müssen. Auch darin könnten die Grünen die Nachfolge der SPD antreten.
Unionskanzlerkandidat Armin Laschet will am liebsten mit der FDP koalieren.