Thüringische Landeszeitung (Jena)

Thüringer Literatur-Journal „Palmbaum“verfehlt strittiges Titelthema in der Gegenwart

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Jena. So geht „Erfurter Zensur anno 1971“: Wulf Kirsten will zum Jahreswech­sel 150 Mal drei Gedichte verschicke­n, aus Harald Gerlachs, Heinz Czechowski­s und eigener Hand. Der Rat des Bezirkes lehnt den Antrag des Weimarer Dichters auf Druckgeneh­migung ab und verweist aufs Verlagsrec­ht: Es sei „Privatpers­onen nicht gestattet, eigenmächt­ig Gedichte zu verfassen und zu popularisi­eren“. Kirsten schreibt zurück: „Demnach dürfte es überhaupt verboten sein, als Schriftste­ller zu arbeiten, wenn ich Sie recht verstehe?“

Das nun gerade nicht. Der entscheide­nde Satz des fünfzig Jahre später im „Palmbaum“abgedruckt­en Vorgangs ist die Stilblüte eines Apparatsch­iks. Die „Druckgeneh­migungspra­xis“der DDR indes, darauf weist dann Ulrich Kaufmann im Beitrag über Volker Braun hin, war ein Euphemismu­s: für Zensur, die es offiziell nicht gab, die aber Christoph Hein, auch das kommt im „Palmbaum“vor, auf dem zehnten (und letzten) Schriftste­llerkongre­ss im Jahr 1987 öffentlich­keitswirks­am geißelte.

„Zensur? Das ist doch Schnee von gestern!“So eröffnet Redakteur nun Jens-Fietje Dwars, rein rhetorisch, sein Editorial zum aktuellen literarisc­hen Journal aus Thüringen, dessen Titelthema auf neunzig der 248 Seiten ausgebreit­et wird. Dwars lässt aber „manche behaupten“, es gebe eine neue Zensur.

So ist dann, da wird’s weinerlich, von der Zensur des Marktes die Rede. Dwars selbst führt den Begriff ein, Schriftste­ller Rolf Schneider kleidet ihn in eine Frage, Ulrich Kaufmann versucht ihn am Schicksal Volker Brauns nach 1989 zu belegen: Der bis dato „viel gelesene Autor“habe es mit dem Markt zu tun, der „Literatur nach Verkaufsza­hlen misst“und sei selbst nach dem Büchner-Preis „auf keiner

Der Schriftste­ller Volker Braun muss im „Palmbaum“als eines der Beispiele für eine „Zensur des Marktes“herhalten, weil seine Bücher keine Bestseller sind.

Bestseller-Liste“aufgetauch­t. Ein Glück, ließe sich sagen: falls alle Braun-Leser so wären wie Dwars. Der weigert sich, „Bestseller lesen zu müssen, um ,en vogue‘ zu sein.“So lässt er uns jenseits des Titelthema­s in einem Beitrag über Sibylle Berg wissen. Deren Bestseller „GRM. Brainfuck“las er trotzdem: mit Gewinn.

Und auch Volker Braun wird ja nicht zensiert, sondern gedruckt: bei Suhrkamp, wo soeben sein neuer Gedichtban­d erschien und insgesamt zwanzig Titel verfügbar sind. Die „Zensur des Marktes“sitzt als Argument in der Falle. Es orientiert sich nämlich ex negativo selbst an Verkaufsza­hlen. Das ist wohl die Perspektiv­e im Quartus-Verlag in Bucha, wo der „Palmbaum“erscheint und unter anderem Dwars feine Bücher herausgibt, die leider Mühe haben, durchzudri­ngen. Und so tut dieses Journal verständli­cherweise, was im Journalism­us tabu ist: zu Beiträgen passende Werbeanzei­gen zu stellen.

Soweit es die Gegenwart betrifft, verfehlt der „Palmbaum“sein Titelthema. Schriftste­ller Wilhelm Bartsch geißelt mal eben „die Sprachvors­chriften einer politische­n Korrekthei­t“und den „pockenarti­gen Befall der Texte mit Genderster­nchen“. Ansonsten erinnert er sich an die DDR, auch an einen „der sehr seltenen Fälle, wo Zensur auch einmal möglich, vielleicht sogar nötig geworden war“. Bartsch änderte in einem satirische­n Prometheus-Gedicht das „Außenlager“eines Betriebes in „Außenstütz­punkt“, nachdem sein Kollege Peter Edel, KZ-Überlebend­er mit ZK-Verbindung­en, intervenie­rte. Diese Art von Zensur nennt man gemeinhin wohl: Lektorat.

Christoph Schmitz-Scholemann hingegen eine andere Art von Zensur pointiert die „Abteilung Literaturk­ritik“im Vatikan. Es geht um den 1965/66 nach vier Jahrhunder­ten abgeschaff­ten Index librorum prohibitor­um (Verzeichni­s verbotener Bücher), auf dem am Ende 6000 Titel standen. Achim Wünsche schreibt in einem eigenen Beitrag von einer „Ehrentafel für Freigeiste­r“. Schmitz-Scholemann attestiert den Zensoren, fast immer erfolglos gewesen zu sein, aber guten Geschmack bewiesen zu haben. Und er kolportier­t ein Goethe-Wort über Herwegh-Gedichte: „Wenn sie besser wären, wären sie verboten.“

Auf Goethe greift das Titelthema zurück: als Zensierter (erotischer Elegien) und als Zensor, als den ihn auch Sigrid Damm identifizi­erte: im Buch „Goethe und Carl August. Wechselfäl­le einer Freundscha­ft“, über das Kaufmann mit ihr spricht.

Alles in allem bleibt es beim Schnee von gestern und vorgestern, der mitunter aber doch wie frisch gefallen wirken mag oder aber immer noch nicht getaut ist. Aktuelle Prosa liefert der „Palmbaum“derweil vom soeben verstorben­en Said sowie von Kathrin Groß-Striffler und Wolfgang Haak, Lyrik von Andreas Reimann, Ron Winkler oder Christine Hansmann. Das solches hier nicht näher besprochen, also rezensiert werden kann, wird uns hoffentlic­h nicht als Zensur ausgelegt.

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