Thüringische Landeszeitung (Jena)
„Wenn überhaupt, dann jetzt! “
Violin-Professorin Anne-Kathrin Lindig spielt die erste Geige im Präsidium der Liszt-Hochschule Weimar
Weimar. Seit 42 Jahren ist Anne-Kathrin Lindig der Musikhochschule „Franz Liszt“verbunden, zunächst als Studentin, seit 1993 als Professorin. Vergangene Woche wurde die Violinistin zur Präsidentin gewählt (wir berichteten). Aktuell Vizepräsidentin für Künstlerische Praxis, tritt sie im Juli die Nachfolge Christoph Stölzls an. Wir sprachen mit ihr.
Herzlichen Glückwunsch zur Wahl, Frau Professor Lindig . . .
. . . vielen Dank! – Es war ein langer Weg.
Wie lange denn genau?
Ein ganzes Jahr! Ich habe mich mit engen Freunden beraten und dann auch professionell coachen lassen.
Woher kamen diese Coaches?
Einer war lange Rektor einer Musikhochschule, der zweite kommt aus der professionellen Supervision. Mit ihnen habe ich auch meinen Bewerbungsvortrag intensiv überarbeitet, den ich dann vor verschiedenen durchaus kritischen Menschen ausprobiert habe. Die Rede für den Wahltag habe ich vorab etwa zehn Mal gehalten.
Darauf wäre man kaum gekommen, da Sie doch längst so versiert sind im Umgang mit dieser Hochschule.
Aber einen solchen Vortrag zu halten und sich den Fragen der Kollegen und Studierenden zu stellen, ist etwas ganz anderes. Wissen Sie, ich habe das so gesehen, als würde ich mich auf ein wahnsinnig wichtiges Konzert vorbereiten. Ich wollte einfach zeigen, dass ich sehr ernsthaft und professionell vorgehe. Außerdem war mir völlig klar, dass diese Wahl absolut kein Selbstläufer wird. Ich wusste, dass mein Vorteil, die Hochschule so gut und so lange zu kennen, in der Außenwahrnehmung zugleich mein Nachteil ist.
Gab es eine bestimmte Dringlichkeit, deretwegen Sie antraten?
„Dringlichkeit“würde ich nicht sagen. Ich fand es einfach den passenden Zeitpunkt: wenn überhaupt, dann jetzt! Ich habe sehr viel Erfahrung in Moderation, Gesprächsführung und Krisenmanagement – alles Kompetenzen, die eine Hochschulleitung verlangt. Es war mir aber immer klar: Ich mache das nicht um meiner Karriere willen. All die vielen Aufgaben, die ich in meinem reichen Arbeitsleben erfüllt habe, kamen zu mir, ich fand sie spannend und bin sie dann mit Lust und Freude angegangen.
Ist Ihre Wahl eigentlich eine schlechte Nachricht für Ihre Studenten und Schüler?
Ich denke nicht, denn sie haben mir alle herzlich gratuliert. Aber ich habe mir in den letzten Monaten viele Gedanken gemacht und deshalb bereits niemanden mehr neu aufgenommen. Ich bin mir sicher, dass ich für alle in der Klasse verbleibenden Studierenden und Schüler aus dem Musikgymnasium Schloss Belvedere eine sehr gute Lösung finde.
Aber das Präsidentenamt bedeutet einen Abschied vom Unterrichten?
Ja, leider. Wenn meine jetzigen Studenten und Schüler alle fertig sind, hört dieser Teil meines Berufslebens auf. Das Unterrichten und der direkte Kontakt zu den jungen Menschen werden mir sehr fehlen.
Sie treten das Amt am 1. Juli an, Ihre Investitur findet am 24. Juni statt, dem 150. Geburtstag der Hochschule. Und Sie sind auch schon lange dabei. Was ist daran der Nachteil, von dem Sie sprachen?
In Wahrheit keiner, denn Weimar allein war nie die ganze Welt für mich: Ich habe unter anderem in Korea, China, Thailand, Italien oder Polen unterrichtet. Durch mein Amt im Vorstand der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen erlebe ich vielfältige Schwerpunktsetzungen und Herausforderungen an den anderen Musikhochschulen und bin eng mit ihnen verknüpft. Meinen Horizont habe ich auch über meine Arbeit für den Deutschen Musikrat, in nationalen und internationalen Jurys und Meisterkursen, als Vertrauensdozentin der Konrad-Adenauer-Stiftung und im Präsidium des Landesmusikrats Thüringen erweitert.
Sie setzen einen dritten Vizepräsidenten ein, für Internationalisierung und Digitalisierung. Was bedeutet das an einer Hochschule, deren Studenten bereits fast zur Hälfte aus dem Ausland kommen?
Gerade eine solche Internationalität erfordert eine besondere Willkommenskultur. Es gilt, die aus der ganzen Welt zu uns kommenden Studierenden zu unterstützen, ihnen beim Erlernen der deutschen Sprache behilflich zu sein und Tutoren zu finden, die den Neuen den Einstieg erleichtern. Dazu soll eine Strategie entwickelt werden.
So etwas gibt es also noch nicht?
Doch. Aber die Willkommenskultur muss ständig entwickelt und verbessert werden. Zur Internationalisierung gehört aber auch der Kontakt nach draußen, den wir zu rund 100 ausländischen Hochschulen pflegen. Doch diese Kontakte sind nur so gut, wie sie persönlich gelebt werden. Man kann das Lehrangebot durch Meisterklassen, Austausch von Lehrenden und Studierenden und wechselseitigen Unterricht via Streaming mit den Partnerhochschulen
ergänzen. Durch diese intensiven Kontakte ist auch die Entwicklung neuer Lehrangebote möglich. Und da kommt die Digitalisierung ins Spiel.
Und wo steht die Hochschule in der Digitalisierung?
In der Verwaltung ist sie schon länger ein Thema. In der Lehre hat sie in der Pandemie wahnsinnig viel Fahrt aufgenommen, wobei sich die Erkenntnis kaum verändert hat, dass ein Musikstudium allein zu Hause vor dem Computer eher nicht funktioniert. Musik braucht Interaktion! Aber das Studium lässt sich besonders im theoretischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Unterricht digital ergänzen.
Wie blicken Sie auf den Ruf nach Stars in der Lehre, der ja an Ihrer Hochschule mitunter laut wird?
Natürlich braucht jede Hochschule berühmte Namen. Da kommen wir nicht drum herum. Aber man muss sich darüber im Klaren sein: Für eine Lehrtätigkeit fühlt man sich und wird man berufen. Jeder Lehrende möchte sein Wissen und Können unbedingt weitergeben. Eine eigene künstlerische, pädagogische oder wissenschaftliche Tätigkeit ist dennoch die Grundlage für exzellente Lehre.
Was steht hinter Ihrer Idee, die Musiktherapie künftig als Studiengang ins Programm zu integrieren?
Ich beschäftige mich schon seit langem damit. Wir alle erleben, wie hoch der Therapiebedarf in unserer Gesellschaft ist. Nicht nur die Zahl anerkannter psychischer Erkrankungen ist stark gestiegen. Ich habe beobachtet, dass und wie Musik heilen oder helfen kann, bei komatösen Patienten oder Demenzkranken, aber auch bei Kindern zum Beispiel. In Kooperation möglichst mit universitären Institutionen Thüringens sehe ich gute Möglichkeiten, ein solches Angebot als gebührenpflichtige Weiterbildung aufzubauen, die sich finanziell trägt.
Eine Präsidentin, drei Vizes – spielen Sie dabei künftig die erste Geige wie im Streichquartett?
Ich habe viele, viele Jahre lang Quartette gespielt. Da gibt es nicht einen Solisten, den die anderen nur ein bisschen begleiten dürfen. Quartett bedeutet ein Miteinander. Man wirft sich die Bälle zu, nimmt sie auf, gibt sie zurück.
„Ich habe das so gesehen, als würde ich mich auf ein wahnsinnig wichtiges Konzert vorbereiten.“Anne-Kathrin Lindig über ihre Bewerbung als Präsidentin