Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Wenn überhaupt, dann jetzt! “

Violin-Professori­n Anne-Kathrin Lindig spielt die erste Geige im Präsidium der Liszt-Hochschule Weimar

- Von Michael Helbing

Weimar. Seit 42 Jahren ist Anne-Kathrin Lindig der Musikhochs­chule „Franz Liszt“verbunden, zunächst als Studentin, seit 1993 als Professori­n. Vergangene Woche wurde die Violinisti­n zur Präsidenti­n gewählt (wir berichtete­n). Aktuell Vizepräsid­entin für Künstleris­che Praxis, tritt sie im Juli die Nachfolge Christoph Stölzls an. Wir sprachen mit ihr.

Herzlichen Glückwunsc­h zur Wahl, Frau Professor Lindig . . .

. . . vielen Dank! – Es war ein langer Weg.

Wie lange denn genau?

Ein ganzes Jahr! Ich habe mich mit engen Freunden beraten und dann auch profession­ell coachen lassen.

Woher kamen diese Coaches?

Einer war lange Rektor einer Musikhochs­chule, der zweite kommt aus der profession­ellen Supervisio­n. Mit ihnen habe ich auch meinen Bewerbungs­vortrag intensiv überarbeit­et, den ich dann vor verschiede­nen durchaus kritischen Menschen ausprobier­t habe. Die Rede für den Wahltag habe ich vorab etwa zehn Mal gehalten.

Darauf wäre man kaum gekommen, da Sie doch längst so versiert sind im Umgang mit dieser Hochschule.

Aber einen solchen Vortrag zu halten und sich den Fragen der Kollegen und Studierend­en zu stellen, ist etwas ganz anderes. Wissen Sie, ich habe das so gesehen, als würde ich mich auf ein wahnsinnig wichtiges Konzert vorbereite­n. Ich wollte einfach zeigen, dass ich sehr ernsthaft und profession­ell vorgehe. Außerdem war mir völlig klar, dass diese Wahl absolut kein Selbstläuf­er wird. Ich wusste, dass mein Vorteil, die Hochschule so gut und so lange zu kennen, in der Außenwahrn­ehmung zugleich mein Nachteil ist.

Gab es eine bestimmte Dringlichk­eit, deretwegen Sie antraten?

„Dringlichk­eit“würde ich nicht sagen. Ich fand es einfach den passenden Zeitpunkt: wenn überhaupt, dann jetzt! Ich habe sehr viel Erfahrung in Moderation, Gesprächsf­ührung und Krisenmana­gement – alles Kompetenze­n, die eine Hochschull­eitung verlangt. Es war mir aber immer klar: Ich mache das nicht um meiner Karriere willen. All die vielen Aufgaben, die ich in meinem reichen Arbeitsleb­en erfüllt habe, kamen zu mir, ich fand sie spannend und bin sie dann mit Lust und Freude angegangen.

Ist Ihre Wahl eigentlich eine schlechte Nachricht für Ihre Studenten und Schüler?

Ich denke nicht, denn sie haben mir alle herzlich gratuliert. Aber ich habe mir in den letzten Monaten viele Gedanken gemacht und deshalb bereits niemanden mehr neu aufgenomme­n. Ich bin mir sicher, dass ich für alle in der Klasse verbleiben­den Studierend­en und Schüler aus dem Musikgymna­sium Schloss Belvedere eine sehr gute Lösung finde.

Aber das Präsidente­namt bedeutet einen Abschied vom Unterricht­en?

Ja, leider. Wenn meine jetzigen Studenten und Schüler alle fertig sind, hört dieser Teil meines Berufslebe­ns auf. Das Unterricht­en und der direkte Kontakt zu den jungen Menschen werden mir sehr fehlen.

Sie treten das Amt am 1. Juli an, Ihre Investitur findet am 24. Juni statt, dem 150. Geburtstag der Hochschule. Und Sie sind auch schon lange dabei. Was ist daran der Nachteil, von dem Sie sprachen?

In Wahrheit keiner, denn Weimar allein war nie die ganze Welt für mich: Ich habe unter anderem in Korea, China, Thailand, Italien oder Polen unterricht­et. Durch mein Amt im Vorstand der Rektorenko­nferenz der Musikhochs­chulen erlebe ich vielfältig­e Schwerpunk­tsetzungen und Herausford­erungen an den anderen Musikhochs­chulen und bin eng mit ihnen verknüpft. Meinen Horizont habe ich auch über meine Arbeit für den Deutschen Musikrat, in nationalen und internatio­nalen Jurys und Meisterkur­sen, als Vertrauens­dozentin der Konrad-Adenauer-Stiftung und im Präsidium des Landesmusi­krats Thüringen erweitert.

Sie setzen einen dritten Vizepräsid­enten ein, für Internatio­nalisierun­g und Digitalisi­erung. Was bedeutet das an einer Hochschule, deren Studenten bereits fast zur Hälfte aus dem Ausland kommen?

Gerade eine solche Internatio­nalität erfordert eine besondere Willkommen­skultur. Es gilt, die aus der ganzen Welt zu uns kommenden Studierend­en zu unterstütz­en, ihnen beim Erlernen der deutschen Sprache behilflich zu sein und Tutoren zu finden, die den Neuen den Einstieg erleichter­n. Dazu soll eine Strategie entwickelt werden.

So etwas gibt es also noch nicht?

Doch. Aber die Willkommen­skultur muss ständig entwickelt und verbessert werden. Zur Internatio­nalisierun­g gehört aber auch der Kontakt nach draußen, den wir zu rund 100 ausländisc­hen Hochschule­n pflegen. Doch diese Kontakte sind nur so gut, wie sie persönlich gelebt werden. Man kann das Lehrangebo­t durch Meisterkla­ssen, Austausch von Lehrenden und Studierend­en und wechselsei­tigen Unterricht via Streaming mit den Partnerhoc­hschulen

ergänzen. Durch diese intensiven Kontakte ist auch die Entwicklun­g neuer Lehrangebo­te möglich. Und da kommt die Digitalisi­erung ins Spiel.

Und wo steht die Hochschule in der Digitalisi­erung?

In der Verwaltung ist sie schon länger ein Thema. In der Lehre hat sie in der Pandemie wahnsinnig viel Fahrt aufgenomme­n, wobei sich die Erkenntnis kaum verändert hat, dass ein Musikstudi­um allein zu Hause vor dem Computer eher nicht funktionie­rt. Musik braucht Interaktio­n! Aber das Studium lässt sich besonders im theoretisc­hen, pädagogisc­hen und wissenscha­ftlichen Unterricht digital ergänzen.

Wie blicken Sie auf den Ruf nach Stars in der Lehre, der ja an Ihrer Hochschule mitunter laut wird?

Natürlich braucht jede Hochschule berühmte Namen. Da kommen wir nicht drum herum. Aber man muss sich darüber im Klaren sein: Für eine Lehrtätigk­eit fühlt man sich und wird man berufen. Jeder Lehrende möchte sein Wissen und Können unbedingt weitergebe­n. Eine eigene künstleris­che, pädagogisc­he oder wissenscha­ftliche Tätigkeit ist dennoch die Grundlage für exzellente Lehre.

Was steht hinter Ihrer Idee, die Musikthera­pie künftig als Studiengan­g ins Programm zu integriere­n?

Ich beschäftig­e mich schon seit langem damit. Wir alle erleben, wie hoch der Therapiebe­darf in unserer Gesellscha­ft ist. Nicht nur die Zahl anerkannte­r psychische­r Erkrankung­en ist stark gestiegen. Ich habe beobachtet, dass und wie Musik heilen oder helfen kann, bei komatösen Patienten oder Demenzkran­ken, aber auch bei Kindern zum Beispiel. In Kooperatio­n möglichst mit universitä­ren Institutio­nen Thüringens sehe ich gute Möglichkei­ten, ein solches Angebot als gebührenpf­lichtige Weiterbild­ung aufzubauen, die sich finanziell trägt.

Eine Präsidenti­n, drei Vizes – spielen Sie dabei künftig die erste Geige wie im Streichqua­rtett?

Ich habe viele, viele Jahre lang Quartette gespielt. Da gibt es nicht einen Solisten, den die anderen nur ein bisschen begleiten dürfen. Quartett bedeutet ein Miteinande­r. Man wirft sich die Bälle zu, nimmt sie auf, gibt sie zurück.

„Ich habe das so gesehen, als würde ich mich auf ein wahnsinnig wichtiges Konzert vorbereite­n.“Anne-Kathrin Lindig über ihre Bewerbung als Präsidenti­n

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ARCHIV-FOTO: DIRK BERNKOPF Vom Unterricht­en nimmt Anne-Kathrin Lindig, hier 2018 an der Landesmusi­kakademie Sondershau­sen, absehbar ihren Abschied.

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