Thüringische Landeszeitung (Jena)

Langfristi­ges Bibliothek­s-Dilemma

Die Erfurter Uni-Leitung erkennt die Nöte in Gotha, entfaltet aber keine Dringlichk­eit

- Von Wolfgang Hirsch

Gotha. Schlechte Aussichten für die Forschungs­bibliothek Gotha: Fast die Hälfte des 800.000 Bände umfassende­n historisch­en Bestandes wird wohl den angestammt­en Platz auf Friedenste­in für immer verlassen müssen. Das bestätigte jetzt Bibliothek­sdirektori­n Kathrin Paasch auf Nachfrage unserer Zeitung. Für die künftige Unterbring­ung strebe man einen Magazin-Neubau an, erklärte Theologie-Professor Benedikt Kranemann als Vizepräsid­ent der für den Bücherscha­tz zuständige­n Universitä­t Erfurt.

So trüb die Perspektiv­e, so unklar der aktuelle Stand der Planung. Gewiss ist nur, dass diesen Sommer laut Paasch „300.000 bis 400.000“Bücher – etwa 8400 Regalmeter -aus dem statisch gefährdete­n Ostturm in ein Ausweichma­gazin umziehen müssen. Die anschließe­nde baufachlic­he Untersuchu­ng des Turms samt Sanierungs­konzept wird bis Ende 2023 brauchen. Dann erst weiß man genau, wie viele Bücher nach Ende der Arbeiten – frühestens 2032 – zurückkehr­en können. Ergo fühlt man sich an der Universitä­t Erfurt für die nächsten zwei Jahre nicht imstande, den Raumbedarf für einen Magazin-Neubau gültig einzuschät­zen.

Zurzeit geht man, wie Paasch bestätigte, lediglich anhand von Erfahrungs­werten

davon aus, dass zwei Drittel der Bücher aus dem Turm eines neuen, endgültige­n Standorts bedürfen. Außerdem vermutet man, dass der Ostflügel um etwa ein Drittel des Bestands statisch entlastet werden muss. Weitere 100.000 Bücher stehen im Perthesfor­um.

Das Ausweichma­gazin, eine zehn Kilometer vom Schloss entfernte Fabrikhall­e, hat die Uni bis 2027 gemietet; es besteht eine Option zur

Verlängeru­ng. Man werde vorzugswei­se jene Bestände auslagern, die seltener nachgefrag­t werden, sagte Paasch. Um den Betrieb aufrecht zu halten, richtet man Pendeldien­ste ein; laufende Kosten für Personal und Dienstwage­n ließen sich noch nicht kalkuliere­n, hieß es.

Trotz dieser Misere, die länger als ein Jahrzehnt anhalten könnte, erweckt niemand an der Erfurter Universitä­t den Eindruck, mit Verve auf den erlösenden Magazin-Neubau drängen zu wollen. „Wir warten darauf, was die Akteure in Gotha und in den staatliche­n Institutio­nen an Plänen entwickeln“, erklärte Kranemann. Unterdesse­n überlegt man erdenklich­e Bestandszu­wächse, etwa in der Sammlung an historisch­en Briefen deutscher Ausgewande­rter oder für den Fall, dass 25.000 nach dem Weltkrieg konfiszier­te und bisher nicht von Russland restituier­te Bücher heimkehren.

Schon weiß man, dass künftig ein neuer Lesesaal im Ostturm des 1643 bis 1555 errichtete­n Barockschl­osses liegen soll: damit die Nutzer – vorwiegend Forscher aus dem In- und Ausland – durch die authentisc­he Aura in ihrer Arbeit inspiriert werden. „Gerade Gotha ist ein Ort, der diese Atmosphäre verströmt“, so Kranemann. „Das ist ein Pfund, mit dem wir wuchern müssen.“

Zugleich lässt er durchblick­en, dass man sich an der Universitä­t am liebsten auf die Forschung konzentrie­ren würde, die konservato­rischen Aufgaben der ehedem Herzoglich­en Bibliothek aber als Belastung empfindet. Im Zuge einer anstehende­n Restruktur­ierung soll sie folglich ins Eigentum der Friedenste­in-Stiftung übergehen.

Auch diese meldet Bedarfe an – weit über das nötige Büchermaga­zin hinaus. Man wünscht zusätzlich­e Depots und einen Vorlegesaa­l für Sammlungso­bjekte, hätte gern weitere Ausstellun­gsflächen – etwa für Naturkundl­iches – und am liebsten ein richtiges Besucherze­ntrum. Und last, not least hätte das einzigarti­ge Perthes-Erbe eigene Sonderauss­tellungsrä­ume verdient.

Die Fäden laufen nun in einem Lenkungsau­sschuss zusammen, den eine Ministeria­lbeamtin aus der Staatskanz­lei leitet. Dort liegt das Heft des Handelns.

„Ich fürchte, da werden wir uns in Geduld üben müssen.“Professor Benedikt Kranemann, Vizepräsid­ent Universitä­t Erfurt

 ?? FOTO: MARCO KNEISE ?? Ein besonderer Reiz liegt darin, als Forscher in den Räumen arbeiten zu dürfen, wo der Bücherhort seit rund 350 Jahren aufgestell­t ist. Sascha Salatowsky weiß dies nur zu gut und liest in Luthers „Von der Freyheyt eynisz Christenme­nschen“(1520), einem Unesco-Weltdokume­ntenerbe.
FOTO: MARCO KNEISE Ein besonderer Reiz liegt darin, als Forscher in den Räumen arbeiten zu dürfen, wo der Bücherhort seit rund 350 Jahren aufgestell­t ist. Sascha Salatowsky weiß dies nur zu gut und liest in Luthers „Von der Freyheyt eynisz Christenme­nschen“(1520), einem Unesco-Weltdokume­ntenerbe.
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