Thüringische Landeszeitung (Jena)
Zum Tag der Archive informiert das Erfurter Stasi-Unterlagen-Archiv über Ausreisewillige
Erfurt. Flucht und Ausreise stellten für die DDR nicht nur eine politische Herausforderung dar. Sie kratzten am Selbstbild des vermeintlich besseren deutschen Staates. Von 1949 bis zum Mauerbau kehrten 2,7 Millionen Menschen der Republik den Rücken, die Hälfte von ihnen war unter 25 Jahre alt. Weitere 600.000 folgten bis 1988, etwa 200.000 wählten den gefährlichen Weg der Flucht. Wer es nicht schaffte und das „Glück“hatte, beim „illegalen Grenzübertritt“nicht getötet zu werden, landete im Knast. Im massenhaften Drang, dem Land der Arbeiter und Bauern zu entkommen, sehen Historiker eines der destabilisierenden Elemente der SED-Herrschaft. Für den Publizisten Wolfgang Welsch waren Flucht und Ausreiseanträge zugleich Widerstandshandlung und Totalabsage an das System.
Wie SED und Stasi in Thüringen speziell auf die „Anträge zur ständigen Ausreise aus der DDR“reagierten, zeigt der Fall der Familie Z. aus Mühlhausen, zu dem die Erfurter Außenstelle des Stasi-UnterlagenArchives Vernehmungsprotokolle in ihrer Mediathek veröffentlicht hat. Anlass der Publikation des
Im Stasi-Unterlagen-Archiv in Erfurt lagern etwa 4500 laufende Meter Akten, im Bild der Leiter Magazindienst Falko Schulz.
OPK-Vorganges „Sonne“ist der bundesweite „Tag der Archive“am Samstag und Sonntag. OPK steht für Operative Personenkontrolle, umschrieben wurden damit Bespitzelung und Zersetzung „feindlichnegativ“eingestellter Personen, um ihnen zum Beispiel Verbrechen oder Straftaten anzuhängen. „Einen Ausreiseantrag zu stellen und damit das Leben in der DDR hinter sich lassen zu wollen, brauchte Mut. Die DDR-Geheimpolizei reagierte oft mit Schikanen, Willkür
und Demütigungen. All das konnte zu weitreichenden Konsequenzen führen, die vor der Antragstellung nicht abzusehen waren“, sagte Außenstellenleiterin Alru Tauché.
Im besagten Fall lieferte sich das Ehepaar in den 1980er-Jahren einen regelrechten „Gardinenkrieg“mit der Stasi. Nach mehreren vergeblichen Ausreiseanträgen lösten die Mühlhäuser 1984 ihren Haushalt auf. Die Fenster ihrer Neubauwohnung verklebten sie mit Zeitungen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Für die Stasi eine Provokation. In einer „Aussprache“sollte der Familienvater dazu gebracht werden, den Antrag zurückzunehmen. Der wehrte sich unter anderem mit der Frage, welches Gesetz es DDR-Bürgern vorschreiben würde, Gardinen an die Fenster zu hängen. Die Stasi setzte nicht nur vier Mitarbeiter auf die Familie an, die das Umfeld und mögliche Westkontakte durchleuchteten, sondern forderte sie auch ultimativ auf, die Zeitungen zu entfernen. Anderenfalls drohten Maßnahmen, „die für Sie augenblicklich noch nicht überschaubar sind“. Die Stasi lasse nicht mit sich spielen. Am Ende siegten die Ausreisewilligen, die aus der DDR „entlassen“wurden. Im Abschlussbericht musste sich die Mielke-Behörte eingestehen, dass die „Zurückdrängung nicht erreicht werden konnte“.
Der Tag der Archive findet alle zwei Jahre statt. Das 2022er Motto lautet „Fakten -- Geschichten – Kurioses“. Wegen der Pandemie setzen die Häuser vor allem auf digitale Angebote. Im Thüringer Archivportal sind 148 Archive mit über 14.000 Beständen eingetragen. www.stasi-mediathek.de www.tagderarchive.de