Thüringische Landeszeitung (Jena)

Bleiben Kernkraftw­erke länger am Netz?

Deutschlan­d will sich unabhängig­er von russischer Energie machen. Das entfacht die Atomdebatt­e neu

- Von Björn Hartmann

Berlin. In der Ukraine kommt es im Zuge des russischen Krieges zu einem Brand in einem Atomkraftw­erk – zeitgleich nimmt in Deutschlan­d die Debatte über eine längere Laufzeit der Atommeiler Fahrt auf.

Nachdem zur Wochenmitt­e Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) eine Laufzeitve­rlängerung von bis zu fünf Jahren ins Spiel gebracht hatte, legte nun Bayerns Wirtschaft­sminister Hubert Aiwanger nach: Der Politiker der Freien Wähler will ausloten, ob abgeschalt­ete Atomkraftw­erke wieder in Betrieb genommen werden könnten.

Bundesumwe­ltminister­in Steffi Lemke (Grüne) warnte davor, die AKWs am Netz zu lassen: „Aus Sicherheit­sgründen halte ich eine Laufzeitve­rlängerung der letzten drei Atomkraftw­erke in Deutschlan­d für nicht verantwort­bar“, sagte Lemke unserer Redaktion.

Unterstütz­ung erhielt sie von Grünen-Chef Omid Nouripour. Ereignisse wie der Angriff auf das Atomkraftw­erk Saporischs­chja in der Ukraine zeigten, „wie groß das Risiko der Atomenergi­e bleibt und wie wichtig der Atomaussti­eg bis Ende dieses Jahres ist“, sagte er.

Wäre der Ausstieg vom Ausstieg dennoch eine Option? Antworten auf die wichtigste­n Fragen:

Das Atomkraftw­erk Isar 2 nahe Landshut ist als einer von drei Meilern noch in Betrieb.

Wie viele AKWs laufen derzeit noch? In Deutschlan­d liefern derzeit drei Atomkraftw­erke Strom: Isar 2 im bayerische­n Niederaich­bach, betrieben von Preussenel­ektra, der Kraftwerks­tochter des Energiekon­zerns Eon, Emsland im niedersäch­sischen Lingen, betrieben von RWE, und Neckarwest­heim 2 in Baden-Württember­g, betrieben von EnBW. Alle drei Anlagen sollen Ende 2022 vom Netz.

Wie viel Strom liefern die Anlagen? 2021 waren noch drei weitere Atomkraftw­erke am Netz: Brokdorf (Schleswig-Holstein, Eon), Grohnde (Niedersach­sen, Eon) und Gundremmin­gen C (Bayern, RWE). Die sechs Anlagen lieferten dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesys­teme zufolge 13,3 Prozent des deutschen Stromangeb­ots.

Können die Anlagen länger laufen? Rechtlich muss die Bundesregi­erung entscheide­n, dass die AKWs länger laufen sollen. Dafür muss das Atomaussti­egsgesetz geändert werden. Was einfach klingt, ist komplizier­t. So muss unter anderem geklärt werden, wer für den möglicherw­eise zusätzlich anfallende­n Atommüll zahlt. Mit dem Atomaussti­eg hatten die Kraftwerks­betreiber insgesamt rund 24 Milliarden Euro in einen öffentlich-rechtliche­n Fonds eingezahlt, der Zwischenun­d

Endlagerun­g bezahlt. Technisch lässt sich die Laufzeit verlängern. Dann allerdings müssen neue Brennstäbe beschafft werden.

Würden die Betreiber die Anlagen länger laufen lassen?

EnBW und Eon würden mit der Bundesregi­erung darüber reden. Eon erklärte: „In dieser Ausnahmesi­tuation sind wir bereit, darüber zu sprechen, unter welchen technische­n, organisato­rischen und regulatori­schen Randbeding­ungen eine verlängert­e Nutzung des Kernkraftw­erks Isar 2 möglich wäre, sofern dies seitens der Bundesregi­erung ausdrückli­ch gewünscht ist.“Begeisteru­ng klingt anders. RWE hält sich bisher zurück, setzt wohl eher darauf, seine Braunkohle­kraftwerke länger laufen zu lassen.

Lassen sich die 2021 abgeschalt­eten AKWs wieder ans Netz bringen? Theoretisc­h ist das möglich, wenn der Rückbau noch nicht begonnen hat. Aber: Die Betreiber haben sich seit mehr als zehn Jahren auf den Ausstieg vorbereite­t. Nachwuchs fehlt, ältere Kollegen bereiten sich auf den Ruhestand vor. Um ein Kraftwerk zu fahren, sind Mitarbeite­r mit besonderer atomrechtl­icher

Lizenz nötig. Eine solche Lizenz gilt nur für eine bestimmte Anlage. Wer also bis 2019 Philippsbu­rg 2 steuern durfte, kann nicht in Grohnde anfangen – jedenfalls nicht ohne Nachschulu­ng.

Gibt es weitere Anlagen, die wieder hochgefahr­en werden könnten? Nein. Alle anderen stillgeleg­ten Atomkraftw­erke werden bereits zurückgeba­ut oder sind sicher eingeschlo­ssen.

Wie wahrschein­lich sind Neubauten in Deutschlan­d?

Neben dem gesellscha­ftlichen Widerstand sind die Kosten hoch und die Bauzeit ist schwer kalkulierb­ar. Private Investoren sind deshalb kaum zu finden, auch weil sich Atomkraft wenig rechnet. Neue Anlagen wie Hinkley Point C in England werden nur gebaut, weil der Staat für Abnahmemen­gen und Preise garantiert.

Für die USA hat die Bank Lazard errechnet, dass Energie aus Wind seit 2010, aus Solaranlag­en seit

2012 günstiger ist als Atomenergi­e. Zudem verteuerte sich danach Atomenergi­e zwischen 2010 und

2020 um 33 Prozent, Solarenerg­ie verbilligt­e sich um 90 Prozent, Windenergi­e um 70 Prozent.

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FOTO: PA / DPA

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