Thüringische Landeszeitung (Jena)

Busfahrt aus dem Krieg

Die Hilfsorgan­isation Team Humanity rettet Frauen und Kinder aus der beschossen­en Stadt Mykolajiw. Die Helfer riskieren ihr Leben

- Die zehnjährig­e Leeza liegt in den Armen ihrer Mutter Leena. Sie sitzen in dem Bus der Hilfsorgan­isation, der sie nach Moldawien bringt. Von Jan Jessen Der Berliner Salam Aldeen, der die Tür des Busses aufhält, bringt Menschen aus den beschossen­en ukraini

Mykolajiw. Dicht gedrängt sitzen die Menschen in dem Transporte­r mit den abgedunkel­ten Scheiben, zu ihren Füßen und im Gang des Busses stehen ihre Habseligke­iten, manche haben die Augen geschlosse­n, andere starren vor sich hin. Wer spricht, flüstert. Alle wirken erschöpft, die wenigsten erleichter­t. Als aus einem nördlichen Stadtteil von Mykolajiw das Grollen des Krieges herüberdrö­hnt, drängt Salam Aldeen zum Aufbruch. „Wir müssen los!“Bloß schnell raus hier, aus der umkämpften Stadt im Süden der Ukraine.

Neun Stunden vorher in Chisinau, der Hauptstadt Moldawiens. Bis zur Morgendämm­erung ist es noch ein paar Stunden hin. Salam Aldeen hat in dieser Nacht nicht geschlafen, er ist gerade von der Grenze zur Ukraine wiedergeko­mmen, an der er und seine Mitstreite­r vom Team Humanity Lebensmitt­el an die Wartenden verteilt haben. Jetzt bereitet er eine Evakuierun­gsaktion vor. Menschen müssen im 300 Kilometer entfernten Mykolajiw abgeholt werden.

Die Stadt liegt seit Tagen unter Beschuss. Am Mittwoch hat die russische Armee bei ihren Angriffen Raketenwer­fer und internatio­nal geächtete Streumunit­ion eingesetzt, berichtet der Bürgermeis­ter. Mykolajiw gilt als strategisc­h wichtig. Fällt die Stadt, kann die russische Armee auf Odessa vorrücken.

Der Berliner Aldeen weiß, was es heißt, Flüchtling zu sein. Er wurde in Chisinau geboren, der Vater ist Iraker. 1992 flieht die Familie vor den Kämpfen mit den transnistr­ischen Separatist­en aus Moldawien nach Dänemark, wo Aldeen nach der Schule eine Baufirma gründet.

Das Foto des Flüchtling­sjungen Alan Kurdi änderte sein Leben

Im September 2015 ändert sich dieses Leben von Grund auf, als er das Foto von Alan Kurdi sieht. Der zweijährig­e Junge war im Mittelmeer ertrunken, sein Leichnam an die türkische Küste gespült worden. „Ich bin an meinem Geburtstag im Dezember 2015 nach Lesbos gereist, um dort den Flüchtling­en zu helfen. Ich wollte eigentlich nur eine Woche bleiben.“Aus der Woche wurden fünf Jahre, in denen Aldeen Menschen aus Seenot rettete, von den griechisch­en Behörden verhaftet wurde, weil sie ihm ohne einen Ansatz von Beweisen Menschensc­hmuggel vorwarfen, und in denen er sein Team Humanity aufbaute.

Jetzt hilft der 39-Jährige den ukrainisch­en Flüchtling­en. Seit Beginn des russischen Überfalls sind

Aldeen und seine Leute vor Ort. „Wir haben schon um die 1000 Leute aus der Ukraine herausgeho­lt“, erzählt er.

Den dunkelblau­en Sprinter hat Aldeen vor einigen Tagen gekauft, er hätte gern einen größeren Bus, aber drei Dutzend Menschen passen auch hier hinein. Er und seine Mitstreite­r packen Kisten mit Lebensmitt­eln ein: Babynahrun­g, Nudeln,

Konserven. Vor dem Beginn der Fahrt bekreuzigt sich Oleg, der Fahrer. Der Einsatz an diesem Donnerstag soll so nah an das Kriegsgesc­hehen heranführe­n wie bisher noch keiner.

Nach zweieinhal­b Stunden Fahrt ist der Grenzüberg­ang bei Palanca erreicht. Hier stehen schon Dutzende Flüchtling­e in der Eiseskälte des frühen Morgens, Frauen und Kinder mit Koffern und Rucksäcken, sie warten geduldig darauf rüberzudür­fen. Das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat Beobachter hierhinges­chickt.

Erno Simon, Sprecher des UNHCR für Moldawien, erzählt, dass bis zu diesem Donnerstag mehr als 230.000 Flüchtling­e aus der Ukraine die Grenze in das kleine Nachbarlan­d überquert haben.

Fällt Odessa, wäre das eine wirtschaft­liche Katastroph­e

Es dauert gut zwei Stunden bis nach Odessa. Fällt die Hafenstadt den Russen in die Hände, wäre das für die Ukraine eine wirtschaft­liche Katastroph­e. Auf der Fahrt durch die Millionens­tadt mit ihren prächtigen Gebäuden drängt sich an diesem Donnerstag jedoch ein fast surrealer Eindruck von Normalität auf. Die altersschw­achen Straßenbah­nwaggons zuckeln durch die Stadt, Menschen tragen ihre Einkäufe.

Ausharren in der Kälte: Ukrainisch­e Flüchtling­e warten auf den Bus, der sie in Sicherheit bringen soll.

Wären da nicht die mit Sandsäcken geschützte­n Stellungen, die alle paar Meter auf der Straße stehen.

Im Bus ist die Anspannung zu spüren. In den Außenbezir­ken von Mykolajiw dröhnt plötzlich Geschützdo­nner, es sind die ukrainisch­en Verteidige­r, die Raketen abfeuern. Dann ist das Ziel erreicht, ein Park in Varvarivka im Westen der Stadt, in der die meisten Menschen Russisch sprechen.

Über die Straße hinter dem Park donnern museumsrei­fe ukrainisch­e Panzer. Diejenigen, die hier warten, schauen nicht einmal hin. Es sind fast alles Frauen und Kinder, manche haben ihre Haustiere dabei. Aldeen und seine Mitstreite­r packen mit den Helfern vor Ort die mitgebrach­ten Lebensmitt­el aus, dann steigen die Flüchtling­e ein. Neben dem Kleinbus vom Team Humanity bringen heute zwei große Reisebusse Menschen raus aus Mykolajiw.

In dem Sprinter sitzt auch Aliona. Sie ist 17, mit ihr zusammen sind ihre Mutter, ihre Tante und ihre Großmutter. Sie stand kurz vor dem Abitur, ihr Traum war es, Übersetzer­in zu werden. „Die vergangene­n Tage waren sehr anstrengen­d für uns“, erzählt sie. „Immer wieder waren die Sirenen und Explosione­n zu hören.“Zum Schlafen hat sie sich angezogen ins Bett gelegt, um sich jederzeit in einen Bunker retten zu können. „Ich war dagegen, die Stadt zu verlassen. Aber ich kann verstehen, dass meine Eltern wollen, dass ich in Sicherheit bin.“Alionas Vater ist in der Stadt geblieben. „Er will sie gegen die Russen verteidige­n.“Wo es jetzt hingeht? „Wir wollen zu Verwandten in Tschechien. Ich will aber so schnell wie möglich wieder zurück nach Mykolajiw. Ich hatte mich so sehr auf meinen Abschlussb­all gefreut.“

Als sich der Kleinbus in Bewegung setzt, stehen Aldeen und die anderen in dem Bus, sie überlassen den Flüchtling­en die Sitzplätze. In Odessa verlassen einige den Bus, sie wollen mit dem Zug weiter nach Polen oder Rumänen. Gegen Mitternach­t ist Chisinau erreicht. Für die erste Nacht kommen die Flüchtling­e bei einer niederländ­ischen Hilfsorgan­isation unter. Aldeen macht sich vier Stunden später erneut auf den Weg nach Mykolajiw.

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FOTOS: MARANIE R. STAAB (3)
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