Thüringische Landeszeitung (Jena)

Familiäre Untiefen

- G.sommer@tlz.de

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

was interessie­ren uns die Freuden, Sorgen und Nöte anderer Familien? Nun: Die halbe Weltlitera­tur würde nicht geschriebe­n worden sein, wenn die Nachfrage gerade auch an fremdem Leiden und Streiten in Familien nicht quasi naturgeset­zlich vorhanden und leicht zu befriedige­n wäre. Alle Familien ähnelten sich im Glück, „jede unglücklic­he Familie ist unglücklic­h auf ihre Weise“, schreibt Lew Tolstoi. Daher wird auch vom Anna-Karenina-Prinzip gesprochen.

Zur Wahrheit des zwischenme­nschlichen Interesses gehört, dass die unglücksel­igen Familienve­rbünde sehr viel mehr staunende Zuwendung erfahren als die sich vermeintli­ch so sehr ähnelnden glückliche­n Sippen, die in all ihrer Zufriedenh­eit eben vor allem auch dies für die Zuschauer und Anteilnehm­er sind: langweilig. Nun wird schon länger, aber gerade jetzt mit größtmögli­chem Aufsehen die Aufführung „Einer gegen die Firma“geboten. Es ist die traurige Geschichte eines Zweitgebor­enen, der offenbar weder die ihm in der Familie zugewiesen­e Rolle annehmen und ausfüllen kann, der zugleich aber auch nicht loskommt von Vater, Bruder, Schwägerin und dem ganzen Clan. Er hat jetzt zwar keine Weltlitera­tur geschriebe­n, aber doch das, was er für seine und damit die einzig gültige Wahrheit hält.

Im ganz Kleinen kennen dieses Emotionsch­aos bestimmt viele Familien, weswegen Tolstoi womöglich widersproc­hen werden muss. Gerade familiäre Verwerfung­en ähneln sich sehr stark. Meist geht es um das Gefühl der Missachtun­g Einzelner verbunden mit Streitigke­iten um Ansehen und Erbe. Da ist dann schnell den Beteiligte­n nichts Menschlich­es mehr fremd.

 ?? ?? Gerlinde Sommer über den Streit in den Familien
Gerlinde Sommer über den Streit in den Familien

Newspapers in German

Newspapers from Germany