Thüringische Landeszeitung (Jena)
Familiäre Untiefen
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
was interessieren uns die Freuden, Sorgen und Nöte anderer Familien? Nun: Die halbe Weltliteratur würde nicht geschrieben worden sein, wenn die Nachfrage gerade auch an fremdem Leiden und Streiten in Familien nicht quasi naturgesetzlich vorhanden und leicht zu befriedigen wäre. Alle Familien ähnelten sich im Glück, „jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“, schreibt Lew Tolstoi. Daher wird auch vom Anna-Karenina-Prinzip gesprochen.
Zur Wahrheit des zwischenmenschlichen Interesses gehört, dass die unglückseligen Familienverbünde sehr viel mehr staunende Zuwendung erfahren als die sich vermeintlich so sehr ähnelnden glücklichen Sippen, die in all ihrer Zufriedenheit eben vor allem auch dies für die Zuschauer und Anteilnehmer sind: langweilig. Nun wird schon länger, aber gerade jetzt mit größtmöglichem Aufsehen die Aufführung „Einer gegen die Firma“geboten. Es ist die traurige Geschichte eines Zweitgeborenen, der offenbar weder die ihm in der Familie zugewiesene Rolle annehmen und ausfüllen kann, der zugleich aber auch nicht loskommt von Vater, Bruder, Schwägerin und dem ganzen Clan. Er hat jetzt zwar keine Weltliteratur geschrieben, aber doch das, was er für seine und damit die einzig gültige Wahrheit hält.
Im ganz Kleinen kennen dieses Emotionschaos bestimmt viele Familien, weswegen Tolstoi womöglich widersprochen werden muss. Gerade familiäre Verwerfungen ähneln sich sehr stark. Meist geht es um das Gefühl der Missachtung Einzelner verbunden mit Streitigkeiten um Ansehen und Erbe. Da ist dann schnell den Beteiligten nichts Menschliches mehr fremd.