Thüringische Landeszeitung (Jena)
Die Enthüllungen des Papstsekretärs
„Nichts als die Wahrheit“verspricht das Buch von Georg Gänswein – und sorgt für Unruhe im Vatikan
Zehn Jahre lebten im Vatikan praktisch zwei Päpste. Nach dem Tod von Benedikt XVI. kehrt der Kirchenstaat zur Normalität zurück, Franziskus ist wieder der einzige Pontifex. Insider befürchten jedoch, dass nach der Beerdigung Benedikts – eine Ikone der Traditionalisten – neue Spannungen in der Kurie entstehen könnten. Die seit Jahren schwelenden Animositäten zwischen dem konservativen und dem sogenannten liberalen Lager um den reformorientierten Franziskus flackern wieder auf. Die Fronten sind verhärtet. Es trennt sie unter anderem die Sicht über heikle Fragen wie die Rolle der Frau in der Kirche, Homosexualität und Zölibat.
Benedikts Vision von einer Kirche als lebendigem Organismus, durchdrungen von der Leidenschaft für Christus, der den Menschen Sinn, Richtung und Glück bringen will, stößt gegen die Neuerungen des Argentiniers Jorge Bergoglio. Neuerungen wie etwa die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten, die Abwendung von der LateinMesse und die Offenheit gegenüber Homosexuellen und Transsexuellen – Franziskus hat diese öfter bei Audienzen empfangen.
Dass einige Kardinäle den Papst vom „Ende der Welt“öffentlich kritisieren und bloßstellen, indem sie ihm theologische Schwächen oder eine Abwendung vom heiligen Glaubensschatz des Lehramtes vorwerfen, ist keine Neuigkeit. Einer der stärksten Franziskus-Kritiker ist der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Dieser ließ wiederholt durchblicken, der Papst sei theologisch nicht sattelfest. Auch der US-Kardinal Raymond Leo Burke hat in den vergangenen Jahren den Argentinier wegen seiner Ehepolitik schwer attackiert. Franziskus hatte daraufhin „böswillige Formen des Widerstands“beklagt,
der sich unter dem Deckmäntelchen des Kampfes für Tradition und Formalität gegen ihn erhebe.
Der Tod und die Begräbnisfeier Benedikts XVI. haben die Konflikte in der katholischen Kirche offengelegt. In den vergangenen zehn Jahren hatten sich die Traditionalisten noch eher im Schatten gehalten. Doch nach dem Ableben des Emeritus drängen sie verstärkt in die Öffentlichkeit. Neuer Bannerträger der Ultrakonservativen ist Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein.
Zwölf Tage nach dem Tod des emeritierten Papstes erschien gestern sein Memoiren-Buch mit dem vielsagenden Titel „Nichts anderes als die Wahrheit“(„Nient´altro che
la veritá“). Der Bayer will darin „die Wahrheit über die eklatanten Verleumdungen und obskuren Manöver“derer offenlegen, die vergeblich versucht hätten, „einen Schatten auf das Lehramt und die Handlungen des deutschen Papstes zu werfen“. Gänswein gibt darin offen zu, dass es einige Male in den knapp zehn Jahren der „Kohabitation“zwischen den beiden Päpsten auch handfeste Friktionen und Meinungsverschiedenheiten gab.
Dass der konservative Gänswein kein Freund des Papstes aus Argentinien ist, ist seit Langem bekannt. Öffentlich wahrte der Kurienerzbischof, der sieben Jahre lang sowohl dem zurückgetretenen Benedikt als auch Franziskus als Präfekt des
Päpstlichen Hauses diente, jedoch die Form. Nun, nach dem Tod Benedikts, hält sich Gänswein nicht mehr zurück. Im Buch beschwert er sich über seine Herabsetzung vom Posten des Protokollchefs Franziskus’ im Jahr 2020. Er sei „schockiert und sprachlos“gewesen, als der amtierende Papst ihn 2020 als Präfekten des Päpstlichen Hauses beurlaubte, heißt es in seinem Buch.
„Benedikts Hoffnung, dass ich das Bindeglied zwischen ihm und seinem Nachfolger sein würde, war etwas naiv“, kommentierte Gänswein. Mit „Schmerz im Herzen“habe der emeritierte Papst den Erlass seines Nachfolgers gelesen, mit dem dieser die von Benedikt 2007 verfügten Möglichkeiten für die Feier der Latein-Messe wieder drastisch einschränkte. „Don Giorgio“, wie Gänswein im Vatikan noch genannt wird, berichtet auch über angebliche Divergenzen zwischen dem Emeritus und seinem Nachfolger über die heikle Gender-Frage.
Für Schlagzeilen in den italienischen Medien sorgte auch Gänsweins Aussage, er habe von Benedikt XVI. den Auftrag erhalten, dessen private Notizen vollständig zu vernichten – „ohne Ausnahme und ohne Schlupflöcher“.
Kehrt Gänswein jetzt nach Deutschland zurück?
Was geschieht jetzt? Gänsweins Entscheidung, offen Kritik an Franziskus zu üben, könnte die Traditionalisten veranlassen, sich neu zu organisieren. Dies gilt auch im Hinblick auf ein zukünftiges Konklave für die Wahl eines Nachfolgers des 86-jährigen Franziskus. Zwar haben manche Franziskus-Kritiker wie die Kardinäle Robert Sarah und Gerhard Müller aus Altersgründen keine Chancen auf eine Papst-Wahl. Die Konservativen suchen jedoch bereits nach neuen Symbolfiguren.
So haben die amerikanischen Bischöfe vor Kurzem Timothy P. Broglio zu ihrem Oberhaupt gewählt, der eine deutlich andere Linie verfolgt als der argentinische Papst. In Europa blicken Benedikts Anhänger auf den Budapester Kardinal Peter Erdö als möglichen nächsten Papst. Geschichte, Bildung und Ideen des Ungarn unterscheiden sich stark von denen von Papst Franziskus, auch bei der Frage der Migranten. Erdös Tiefgründigkeit als Theologe und seine ruhige Umgangsweise sind Eigenschaften, die aus ihm den neuen Hoffnungsträger der Konservativen machen könnten. Die Ultrakonservativen im Vatikan schöpfen Mut.
Benedikts Hoffnung, dass ich das Bindeglied zwischen ihm und seinem Nachfolger sein würde, war etwas naiv. Georg Gänswein, langjähriger Privatsekretär von Papst Benedikt XVI.