Thüringische Landeszeitung (Jena)
An der Sollbruchstelle Wie die CDU in Thüringen ihre Neuausrichtung forciert
Union sucht im Bund ihre Rolle als Klimaschutz-Partei. Ostdeutsche Themen rücken in Fokus
Seit dem Wochenende kennen wir dieses Wort. Ein schartiges, ein boshaftes Wort. Es knirscht zwischen den Zähnen wie der Sand der Zeit. Gemeint ist der Rand einer Braunkohlegrube im Rheinischen Revier bei Lützerath.
Unmittelbar an dieser Kante geht es vierzig Meter in die Tiefe. Hinunter auf die Sohle des riesigen Tagebaus, aus dem der Energieriese RWE die mürbe Schicht der vor Millionen Jahren gestorbenen Wälder schürfte und wo noch immer Reste der erpressten Riesenfarne lagern – eben unter Lützerath, ausgerechnet.
Experten von RWE haben ausgerechnet, dass Deutschland ohne die in dem Dörfchen eingekellerte Kohle nicht durch den Krisenwinter kommen würde, die Experten der Klimaaktivisten sehen das aber anderes. Experten können eben alles ausrechnen.
Deswegen gibt es noch immer Zoff an der Abbruchkante. Das ist nicht schön, und es kommt – im wohltemperierten Reporterdeutsch – zu „unschönen Szenen“zwischen Polizisten und Klimaaktivisten.
Von wegen vierzig Meter! Die wirkliche Fallhöhe, um die es eigentlich geht, hat eine völlig andere Dimension. Denn in der Realität bewegt sich ganz Europa haarscharf an der Abbruchkante der Demokratie.
Besonders hart umrissen ist dabei die Demarkationslinie zwischen der Ukraine und Russland. Dort verläuft die Grenze unmittelbar zwischen Leben und Tod, Krieg und Frieden, Flucht und Vertreibung. Es geht um die nackte Existenz.
Ganz so dramatisch ist es an der Kanalküste nicht. Dort haben die Briten nur die Leinen losgemacht und zeigen dem alten Kontinent mit den Kreidefelsen von Dover die kalte Schulter. Das würden Orban mit Ungarn und ähnlich gepolte Nachbarn auch ganz gern tun. Um dem Rechtssystem einen Rechtsdrall zu verpassen, die frei Presse auszuschalten... aber wenn dann die Fördermittel der Europäischen Union ausblieben, müsste man am Plattensee wieder Forinth drucken, könnte sich aber die Druckplatten platterdings nicht leisten...
Als vor mehr als einem halben Jahrhundert damit begonnen wurde, am Hause Europa zu bauen, hat sich niemand vorstellen wollen, dass dieses Gebäude einmal an einer Abbruchkante zu stehen kommen könnte und vielleicht mit einer Ecke schon drüber hängt. Und die Haustürglocke sollte nicht Alarm schlagen, sondern der Freiheitsglocke gleich über die mürbe Schicht gewesener Wälder hinweg ausbimmeln: Die Würde des Menschen ist unantastbar!
Mario Voigt (CDU) zieht in einem Hotel in Weimar Bilanz – und die fällt durchweg positiv aus. Zwei Tage hatte der Bundesvorstand in Thüringen an der Neuausrichtung der CDU gefeilt. Für den Thüringer Landesvorsitzenden und seine ostdeutschen Kollegen die Gelegenheit, Themen zu adressieren, die insbesondere die neuen Bundesländer voranbringen sollen. Zumal vor dem Wahljahr 2024, wenn in Thüringen, Sachsen und Brandenburg neue Landtage gewählt werden sollen.
Voigt hält das Vorhaben für gelungen, die ostdeutschen Bundesländer innerhalb der CDU noch stärker in den Mittelpunkt zu rücken und verweist im Gespräch mit dieser Zeitung auf zwei Details aus dem „Weimarer Erklärung“genannten Beschluss des Vorstandes.
So fordert die Union „Verlässlichkeit im Strukturwandel“und damit die Umsetzung der „zugesagten Großprojekte des Bundes“. Genannt werden hier neben dem Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung auch die Schaffung einer Wasserstoffverbundregion Leuna-Bitterfeld-Thüringen. Darüber hatten Voigt und der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU) bereits vor einigen Tagen auf der Fraktionsklausur der Thüringer CDU gesprochen – und nun das Thema auch erfolgreich bei der Bundespartei adressiert.
Kein Wunder also, dass der CDULandesvorsitzende zufrieden aus der Klausurtagung geht, weil es gelungen sei, „die Themen, die wichtig sind“, zu adressieren. Voigt ist überzeugt: „Der Bundesvorstand hat gesehen, wie viel Dynamik und Power in den neuen Bundesländern steckt.“
Der Bundesvorsitzende Friedrich Merz indes zeichnet nach der Klausurtagung, die in Eisenach mit einem Essen auf der Wartburg begann und mit einer Besichtigung der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek am Samstagnachmittag endete, die großen Linie.
Dabei unterläuft ihm auf der Abschlusspressekonferenz zunächst ein Versprecher, der aufhorchen lässt: „Wir sprechen uns nicht gegen den Bau neuer Kernkraftwerke aus.“Die Unruhe im Raum bleibt dem CDU-Vorsitzenden nicht verborgen. Wollen die Christdemokraten
tatsächlich den Bau neuer Kernkraftwerke in Deutschland vorantreiben? Merz schaut auf Nachfrage überrascht, dann fällt ihm sein Fehler selbst auf und er stellt klar: „Wir sprechen uns ausdrücklich nicht für den Neubau von Kernkraftwerken aus.“
Das deckt sich dann auch mit der „Weimarer Erklärung“. Dort heißt es: „Wir wollen, dass die Forschung an der Kernfusion verstärkt fortgesetzt wird und Deutschland dabei eine führende Rolle behält. Wir befürworten die Fortsetzung der Forschung und Entwicklung der Kernenergie der nächsten Generation.“Die ergebnisoffene Prüfung des
Baus neuer Atomkraftwerke, der sich noch in einem Entwurf der Erklärung vor der Klausur fand, ist damit vom Tisch, wie Merz bestätigt. Das sei das Ergebnis der intensiven Diskussion im Vorstand.
Daneben bleibt die Union bei ihrer Forderung, die am Netz befindlichen Kernkraftwerke bis ins kommende Jahr hinein zu nutzen. Dazu sei „die sofortige Bestellung neuer Brennstäbe“erforderlich. Die Ampel in Berlin will die letzten drei in Deutschland aktiven Atomkraftwerke spätestens im April abschalten.
Merz gibt vor Journalisten in Weimar dann auch unumwunden zu,
dass man sich in den zwei Tagen in Thüringen weniger mit aktuellen politischen Entwicklungen befasst habe. Dennoch: Die Frage nach Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) kann er dann doch nicht umgehen. Wie die „Bild“seit Freitag berichtet, steht die SPDMinisterin vor ihrem Rücktritt – bis Sonntagabend hielten sich Spekulationen, wann sie den Schritt offiziell verkündet. Merz macht deutlich, dass der Bundeskanzler nun Klarheit schaffen müsse. Die Bundeswehr brauche wieder „einen Minister oder eine Ministerin, die der Aufgabe gewachsen ist“, kommentiert er die Hängepartie.