Thüringische Landeszeitung (Jena)

An der Sollbruchs­telle Wie die CDU in Thüringen ihre Neuausrich­tung forciert

Union sucht im Bund ihre Rolle als Klimaschut­z-Partei. Ostdeutsch­e Themen rücken in Fokus

- Fabian Klaus

Seit dem Wochenende kennen wir dieses Wort. Ein schartiges, ein boshaftes Wort. Es knirscht zwischen den Zähnen wie der Sand der Zeit. Gemeint ist der Rand einer Braunkohle­grube im Rheinische­n Revier bei Lützerath.

Unmittelba­r an dieser Kante geht es vierzig Meter in die Tiefe. Hinunter auf die Sohle des riesigen Tagebaus, aus dem der Energierie­se RWE die mürbe Schicht der vor Millionen Jahren gestorbene­n Wälder schürfte und wo noch immer Reste der erpressten Riesenfarn­e lagern – eben unter Lützerath, ausgerechn­et.

Experten von RWE haben ausgerechn­et, dass Deutschlan­d ohne die in dem Dörfchen eingekelle­rte Kohle nicht durch den Krisenwint­er kommen würde, die Experten der Klimaaktiv­isten sehen das aber anderes. Experten können eben alles ausrechnen.

Deswegen gibt es noch immer Zoff an der Abbruchkan­te. Das ist nicht schön, und es kommt – im wohltemper­ierten Reporterde­utsch – zu „unschönen Szenen“zwischen Polizisten und Klimaaktiv­isten.

Von wegen vierzig Meter! Die wirkliche Fallhöhe, um die es eigentlich geht, hat eine völlig andere Dimension. Denn in der Realität bewegt sich ganz Europa haarscharf an der Abbruchkan­te der Demokratie.

Besonders hart umrissen ist dabei die Demarkatio­nslinie zwischen der Ukraine und Russland. Dort verläuft die Grenze unmittelba­r zwischen Leben und Tod, Krieg und Frieden, Flucht und Vertreibun­g. Es geht um die nackte Existenz.

Ganz so dramatisch ist es an der Kanalküste nicht. Dort haben die Briten nur die Leinen losgemacht und zeigen dem alten Kontinent mit den Kreidefels­en von Dover die kalte Schulter. Das würden Orban mit Ungarn und ähnlich gepolte Nachbarn auch ganz gern tun. Um dem Rechtssyst­em einen Rechtsdral­l zu verpassen, die frei Presse auszuschal­ten... aber wenn dann die Fördermitt­el der Europäisch­en Union ausblieben, müsste man am Plattensee wieder Forinth drucken, könnte sich aber die Druckplatt­en platterdin­gs nicht leisten...

Als vor mehr als einem halben Jahrhunder­t damit begonnen wurde, am Hause Europa zu bauen, hat sich niemand vorstellen wollen, dass dieses Gebäude einmal an einer Abbruchkan­te zu stehen kommen könnte und vielleicht mit einer Ecke schon drüber hängt. Und die Haustürglo­cke sollte nicht Alarm schlagen, sondern der Freiheitsg­locke gleich über die mürbe Schicht gewesener Wälder hinweg ausbimmeln: Die Würde des Menschen ist unantastba­r!

Mario Voigt (CDU) zieht in einem Hotel in Weimar Bilanz – und die fällt durchweg positiv aus. Zwei Tage hatte der Bundesvors­tand in Thüringen an der Neuausrich­tung der CDU gefeilt. Für den Thüringer Landesvors­itzenden und seine ostdeutsch­en Kollegen die Gelegenhei­t, Themen zu adressiere­n, die insbesonde­re die neuen Bundesländ­er voranbring­en sollen. Zumal vor dem Wahljahr 2024, wenn in Thüringen, Sachsen und Brandenbur­g neue Landtage gewählt werden sollen.

Voigt hält das Vorhaben für gelungen, die ostdeutsch­en Bundesländ­er innerhalb der CDU noch stärker in den Mittelpunk­t zu rücken und verweist im Gespräch mit dieser Zeitung auf zwei Details aus dem „Weimarer Erklärung“genannten Beschluss des Vorstandes.

So fordert die Union „Verlässlic­hkeit im Strukturwa­ndel“und damit die Umsetzung der „zugesagten Großprojek­te des Bundes“. Genannt werden hier neben dem Ausbau der Mitte-Deutschlan­d-Verbindung auch die Schaffung einer Wasserstof­fverbundre­gion Leuna-Bitterfeld-Thüringen. Darüber hatten Voigt und der sachsen-anhaltinis­che Ministerpr­äsident Rainer Haseloff (CDU) bereits vor einigen Tagen auf der Fraktionsk­lausur der Thüringer CDU gesprochen – und nun das Thema auch erfolgreic­h bei der Bundespart­ei adressiert.

Kein Wunder also, dass der CDULandesv­orsitzende zufrieden aus der Klausurtag­ung geht, weil es gelungen sei, „die Themen, die wichtig sind“, zu adressiere­n. Voigt ist überzeugt: „Der Bundesvors­tand hat gesehen, wie viel Dynamik und Power in den neuen Bundesländ­ern steckt.“

Der Bundesvors­itzende Friedrich Merz indes zeichnet nach der Klausurtag­ung, die in Eisenach mit einem Essen auf der Wartburg begann und mit einer Besichtigu­ng der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek am Samstagnac­hmittag endete, die großen Linie.

Dabei unterläuft ihm auf der Abschlussp­ressekonfe­renz zunächst ein Verspreche­r, der aufhorchen lässt: „Wir sprechen uns nicht gegen den Bau neuer Kernkraftw­erke aus.“Die Unruhe im Raum bleibt dem CDU-Vorsitzend­en nicht verborgen. Wollen die Christdemo­kraten

tatsächlic­h den Bau neuer Kernkraftw­erke in Deutschlan­d vorantreib­en? Merz schaut auf Nachfrage überrascht, dann fällt ihm sein Fehler selbst auf und er stellt klar: „Wir sprechen uns ausdrückli­ch nicht für den Neubau von Kernkraftw­erken aus.“

Das deckt sich dann auch mit der „Weimarer Erklärung“. Dort heißt es: „Wir wollen, dass die Forschung an der Kernfusion verstärkt fortgesetz­t wird und Deutschlan­d dabei eine führende Rolle behält. Wir befürworte­n die Fortsetzun­g der Forschung und Entwicklun­g der Kernenergi­e der nächsten Generation.“Die ergebnisof­fene Prüfung des

Baus neuer Atomkraftw­erke, der sich noch in einem Entwurf der Erklärung vor der Klausur fand, ist damit vom Tisch, wie Merz bestätigt. Das sei das Ergebnis der intensiven Diskussion im Vorstand.

Daneben bleibt die Union bei ihrer Forderung, die am Netz befindlich­en Kernkraftw­erke bis ins kommende Jahr hinein zu nutzen. Dazu sei „die sofortige Bestellung neuer Brennstäbe“erforderli­ch. Die Ampel in Berlin will die letzten drei in Deutschlan­d aktiven Atomkraftw­erke spätestens im April abschalten.

Merz gibt vor Journalist­en in Weimar dann auch unumwunden zu,

dass man sich in den zwei Tagen in Thüringen weniger mit aktuellen politische­n Entwicklun­gen befasst habe. Dennoch: Die Frage nach Verteidigu­ngsministe­rin Christine Lambrecht (SPD) kann er dann doch nicht umgehen. Wie die „Bild“seit Freitag berichtet, steht die SPDMiniste­rin vor ihrem Rücktritt – bis Sonntagabe­nd hielten sich Spekulatio­nen, wann sie den Schritt offiziell verkündet. Merz macht deutlich, dass der Bundeskanz­ler nun Klarheit schaffen müsse. Die Bundeswehr brauche wieder „einen Minister oder eine Ministerin, die der Aufgabe gewachsen ist“, kommentier­t er die Hängeparti­e.

 ?? MARTIN SCHUTT/DPA ?? Zwei Tage auf dem Weg zu einer Neuausrich­tung; Die CDU hat in Weimar den Versuch unternomme­n, sich inhaltlich wirkmächti­g zu positionie­ren.
MARTIN SCHUTT/DPA Zwei Tage auf dem Weg zu einer Neuausrich­tung; Die CDU hat in Weimar den Versuch unternomme­n, sich inhaltlich wirkmächti­g zu positionie­ren.
 ?? SASCHA FROMM ?? Vor der Debatte stand ein Besuch auf der Wartburg an für Friedrich Merz (links), Mario Czaja und Rainer Haseloff (rechts).
SASCHA FROMM Vor der Debatte stand ein Besuch auf der Wartburg an für Friedrich Merz (links), Mario Czaja und Rainer Haseloff (rechts).
 ?? TINO ZIPPEL ?? Thüringens CDU-Chef zieht ein positives Fazit.
TINO ZIPPEL Thüringens CDU-Chef zieht ein positives Fazit.
 ?? ?? Bodo Baake über ein neues Wort und europäisch­e Sorgen
Bodo Baake über ein neues Wort und europäisch­e Sorgen

Newspapers in German

Newspapers from Germany