Thüringische Landeszeitung (Jena)
Der Weg für die Bagger ist (fast) frei
Das war es mit Lützerath: Die Polizei holt die letzten Aktivisten aus dem Dorf
Keyenberg/Lützerath. Es ist der liebste Schlachtruf der Demonstranten: „Lützi bleibt, Lützi bleibt, Lützi bleibt, bleibt, bleibt!“Doch vom Dorf Lützerath bei Erkelenz, das nie mehr war als ein kleiner Weiler, ist schon am Sonntag nicht mehr viel geblieben. Binnen fünf Tagen sind alle Barrikaden gefallen, Bagger haben Hallen niedergerungen und steinerne Gebäude angenagt; das „Wäldchen“ist nur noch eine Baumgruppe, schwankend im Wind. Am frühen Nachmittag holen die Sicherheitskräfte die letzten Besetzer aus den Kronen.
Ansonsten räumen Polizei und Werkschutz weiter an diesem fünften Tag. Wer jetzt noch nicht aufgegeben hat, steht auf den Dächern der Baumhäuser oder hängt dazwischen wörtlich in den Seilen. In einem Tunnel harren noch zwei Aktivisten aus. Sie haben ihn selbst gegraben und wollten ihn auch am Sonntag nicht verlassen.
Ein Protestler ist vor dem Hubwagen der Sicherheitskräfte in den höchsten Wipfel einer Esche geflohen, unter ihm schlagen sie die Scheiben seiner Behausung ein, eine nasse Decke fliegt zu Boden. Ein anderer hockt in sicher 30 Metern Höhe auf einem „Monopod“: zwei zusammengebundene Stämme, er winkte von dort oben am Sonnabend den Demonstranten, wie eine Flagge im Wind.
Und dieser Wind wird nun im doppelten Sinn „zunehmend“zum
Problem: „Der Wind soll weiter auffrischen“, mahnt die Polizei durch ein Megafon, und tatsächlich ist es schon ein veritabler Sturm. Der Mast biegt sich bedenklich, auch in Richtung der Traversen, in denen die anderen Demonstranten hängen. Auch die dünnen Bäume schwanken, die hier überhaupt noch stehen, der Witterung schutzlos ausgesetzt. So viel Holz ist schon gefällt, haushoch aufgeschichtet am Wegesrand, um manchen Stamm winden sich noch die Kletterseile. Der Geschmack von nassem Lehm legt sich auf die Lippen.
Es ist zwölf Uhr mittags, als der Mann auf dem Mast dem Drängen nachgibt. „Das ist es nicht wert!“, hat die Polizei von unten gerufen, man muss jetzt wirklich um sein Leben fürchten.
Zentimeter für Zentimeter hangelt er sich hinab, seine Mitstreiter begleiten ihn mit Schlachtrufen, die Polizei lobt: „Du machst das sehr gut!“Feuerwehrleute halten ein Sprungtuch bereit. Der Demonstrant braucht es nicht, er kommt nicht herunter, noch nicht. Singend klettert er weiter in einen der Bäume.
„Der Rest des Protests“– ein Wäldchen, sechs Baumhäuser
Dies ist das „Phantasialand“, so nennen die Protestler dieses Stückchen Lützerath: das Wäldchen, sechs Baumhäuser noch darin. Es ist der Rest des Protests, irgendwo darunter müssen die unterirdischen Gänge sein, in denen „Pinky“und „Brain“immer noch ausharren, seit Freitag nun schon. Die schweren Räumfahrzeuge dürfen hier nicht fahren, so bergmännisch wird der Raum unter Tage nicht abgestützt sein. Der „Aktionsticker Lützerath“meldet aber eine „unangemeldete Versammlung aller Hebebühnen“.
Um das „Phantasialand“herum sind die Reste anderer Baumhäuser schon fortgeschafft, sie hatten Namen wie „Streichholzschachtel“oder „Abgesoffen“– das war nach einem großen Regen. Auch „Lichtblick“wird am Nachmittag fallen. Die meisten anderen endeten als traurige Trümmerhaufen im Morast: Bretter, Planen und Paletten. Mit ihnen ist weg, was vom letzten Leben in Lützerath noch blieb: ein Fahrrad, umgekippte Campingstühle, ein menschengroßer Teddybär. Und das, was auch selbst ernannte „Aktivisti“brauchen. Deo, Zahnbürste, ein Eimer Speisesalz. Dinkelvollkornmehl, Olivenöl, Nutella. Aber auch Grabkerzen, Christbaumkugeln und eine verwelkte Azalee im Topf.
Die große Mauer am Hof des letzten Bauern von Lützerath ist eingerissen, in einem Nebengebäude klafft ein haushohes Loch – genau dort, wo die Fassade bunt angemalt war. Aus einem Rohr in der Badezimmerwand fließt Wasser, der Wind verteilt die Tropfen über Isomatten und Schlafsäcke unten im Dreck. Sträucher werden ausgerissen, knirschend faltet eine Baggerschaufel eine Leichtbauhalle zusammen. Der Bau war am Sonnabend
noch Kulisse für die Ausschreitungen an der Tagebau-Kante.
Das Feld davor liegt am Sonntag friedlich da, in der Mitte liegt noch das riesige gelbe Kreuz, um das sich die Demonstranten eigentlich versammeln sollten. Nur in Lützerath ist es heute laut, aber das liegt nicht mehr an den Parolen.
Die Generatoren summen, Bagger reißen ab, was noch steht
Es summen die Generatoren, Bagger, Erntegeräte, Räumfahrzeuge reißen krachend ab, was noch steht. Bloß die Toiletten sind am Mittag noch da, die Pressholztüren klappern im Wind. „Nur für Camp-Bewohnende ohne Durchfall/Erbrechen“ist angeschlagen, in offenen Regalen liegen Toilettenpapier, Einmaltücher, Masken und Desinfektionsmittel. Und die weißen Overalls, in denen die Besetzer kletterten. Es wird alles nicht mehr gebraucht, die Menschen sind weg. Auf den gigantischen Baggern im Tagebau leuchten die Weihnachtsbäume.
Indigo Drau von der Initiative „Lützerath bleibt“wird trotzdem am Nachmittag sagen, der Ort lebe noch immer. Die junge Frau ist am Freitag aus einem der Bäume „geräumt“worden, zwei Tage vor ihren letzten Mitstreitern. Trotzdem glaubt sie noch daran: „Lützerath zu erhalten, ist in jedem Moment möglich.“
Auf den gigantischen Baggern im Tagebau leuchten auch heute wieder die Weihnachtsbäume.