Thüringische Landeszeitung (Jena)
Schlaf, Kindlein schlaf … endlich ein!
Im Familienbett, begleitet oder allein, nach Bedarf oder getaktet – Experten erklären, wie Kinder am besten zur Ruhe kommen
Schlaf ist für viele Familien ein aufwühlendes Thema – insbesondere das Einschlafen der Kinder am Abend und Durchschlafen in der Nacht. Was ist normal? Was ist richtig? Wann sollte ein Kind alleine (ein)schlafen können? Ab wann darf der Mittagsschlaf entfallen? Wie sieht es mit Co-Sleeping, also dem gemeinsamen Schlafen im Familienbett aus? Fragen über Fragen für die Eltern, die gerne Patentrezepte hätten – auf die es oft aber einfach keine pauschalen Antworten gibt.
Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster hat sich nicht nur in seinem erst im vergangenen Jahr überarbeiteten Bestseller „Kinder verstehen“ausgiebig mit dem Schlaf von Kindern befasst. Es ist ein Thema, dass ihn berufsbedingt seit jeher umtreibt und ihm besonders am Herzen liegt. Sein Fazit: „Ob man großen Aufwand und Zirkus um fixe Rituale betreibt, ist für Säuglinge und Kleinkinder am Anfang gar nicht entscheidend“, erklärt Renz-Polster im Gespräch mit unserer Redaktion. „Wichtig ist eine entspannte Beziehung zur Bezugsperson, eine enge Bindung – das Gefühl von Sicherheit.“Erst später wirkten etablierte Rituale aus sich heraus und nur über die Beziehungsebene.
Hintergrund: Anders als die meisten anderen Dinge des Lebens lasse sich Schlaf nicht einfach machen, herstellen oder gar erzwingen, so der renommierte Kinderarzt. „Von wegen: Da klemme ich mich dahinter, bringe Leistung und all das – dadurch kommen wir dem Schlaf kein bisschen näher. Im Gegenteil: Der Schlaf muss sich ergeben. Sobald Anspannung und Stress im Raum stehen, sind wir wach.“Das gelte für Erwachsene wie für Kinder.
Aus Renz-Polsters Sicht ist der Aufbau einer, wie er es nennt, „Schlafheimat“entscheidend für möglichst stressfreie Abende. Das Kind müsse spüren: Hier passiert mir nichts. Hier bin ich sicher. Und wenn doch etwas los ist, dann bekomme ich schnell Hilfe. „Diese Erfahrung muss sich verfestigen“, sagt Renz-Polster. „Dann schafft es das Kind – manche eher, manche später – auch automatisch irgendwann alleine zu schlafen.“
Das zu verstehen sei für Eltern essenziell. Wichtig dabei: Das Gefühl einer sicheren Heimat und guter Bindung entsteht Tag und Nacht.
Sprich: Läuft der Alltag nicht rund und ist von Stress, Unsicherheit und Streit geprägt, wird es auch mit dem Schlafen schwieriger – egal, wie viel Mühe sich Eltern dann geben.
Ein weiteres Problem: „Das Kind muss sich entspannen, um einzuschlafen“, erklärt Renz-Poster. „Oft sind die Eltern aber von der Einschlafsituation so gestresst oder genervt, dass ein Teufelskreis entsteht.“Die Eltern scharren regelrecht mit dem Hufen, wollen das Kind in den Schlaf begleiten. Denn wie wichtig das sei, das hätten zum Glück mittlerweile fast alle verstanden, betont der Kinderarzt. Die angespannte Energie übertrage sich auf das Kind und der Einschlafprozess ziehe sich so unnötig in die Länge.
Renz-Polster ist daher ein Freund des Familienbetts: Alle schlafen zusammen, wie früher am Feuer oder in der Höhle auch. Das gebe Sicherheit – ganz anders als etwa bei der Ferber-Methode, bei dem sich Kinder irgendwann allein im Zimmer resigniert und erschöpft in den Schlaf weinen. Zusätzlich müssen die Eltern nachts nicht aufstehen, wenn das Kind wach wird, und bekommen so meist selbst mehr Schlaf, sind ausgeruhter und entspannter.
In seinen Schlafberatungen empfiehlt er gestressten Eltern zudem während der Einschlafbegleitung Dinge für sich zu tun und sich dadurch zu entspannen – lesen, Online-Banking am Handy, gar über Kopfhörer einen Film zu schauen. „Auch wenn das vielleicht nicht optimal ist, die Hauptsache ist, alle fühlen sich wohl – nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen“, betont Renz-Polster. Wichtig für die Entwicklung ist am Ende, dass die Kinder sich geborgen fühlen und ausreichend Schlaf bekommen.
Forschung zeigt: Kleine Kinder sollten immer schlafen dürfen
Manuela Friedrich vom MaxPlanck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig erforscht mit ihrem Team an der Humboldt-Universität zu Berlin, wie Schlaf die Sprachentwicklung von Babys und Kleinkindern beeinflusst. Dafür werden komplexe Studien durchgeführt, Bekanntes genauso präsentiert wie neue Fantasiewörter und -gegenstände – und dabei die Hirnströme der Kinder gemessen. Das Ergebnis: Dürfen die Kleinen zeitnah nach neuem Input schlafen, verarbeiten sie die Informationen nachhaltig und lernen dadien
durch schnell dazu.
Aber auch der Schlaf selbst verändert sich nach dem Lernen von Neuem, wie die Forschung zeigte. So verlängert sich genau die Schlafphase, die für das Gedächtnis von Babys und Kleinkindern wichtig ist. „Es scheint, dass sich das kindliche Gehirn genau den Schlaf nimmt, den es braucht“, betont Friedrich. „Das heißt, man muss den Kindern eigentlich nur die Möglichkeit geben, zu schlafen.“Möglichst ohne die Kleinen zu früh zu wecken.
Nicht nur für die Entwicklung des Wortschatzes scheint dies wichtig. Eine neue Studie, die erst vor wenigen Tagen im Fachmagazin „Nature Communications“erschienen ist, zeigt, dass Schlaf auch das Gedächtnis für Grammatikwissen fördert. „Wir gehen davon aus, dass dieser neue Gedächtniseffekt nach dem Schlafen auf einem im Schlaf neu gebildeten Gedächtnis beruht“, erklärt Friedrich, Erstautorin der Studie. Die Forschenden vermuten, dass sich das Gedächtnis im Schlaf weiterentwickelt und das kindliche Gehirn nicht nur neue Begriffe, sondern auch die regelhaften Beziehungen von Wörtern nach dem Schlafen in einer neuen Form speichert.
Säuglingen wird oft die Möglichkeit gegeben, immer dann zu schlafen, wenn sie müde sind. Das Wissen, wie wichtig der Schlaf nicht nur für die sprachliche, sondern ihre gesamte Entwicklung ist – etwa auch für Reifungsprozesse, die Stärkung des Immunsystems oder die Ausschüttung von Wachstumshormonen –, hat die Eltern erreicht. Das sehen auch die Experten.
Bei Kindergartenkindern beobachtet Friedrich aktuell jedoch einen gegenläufigen Trend: „Hier gibt es die Tendenz, dass diese tagsüber gar nicht mehr schlafen und die Eltern das auch oft nicht möchten, weil die Kinder dann abends nicht so früh einschlafen.“Ein längerer Nachtschlaf jedoch könne den fehlenden Tagschlaf nicht ausgleichen, gibt die Forscherin zu bedenken – das hätten Langzeitstu
mit Blick auf die Sprachentwicklung gezeigt. „Aus unserer Sicht ist es wirklich gut, Kindern so lange wie möglich die Gelegenheit zu geben, mittags zu schlafen – auch
wenn sie diese nicht immer nutzen.“Vor allem, wenn das Gehirn viel Neues zu verarbeiten habe, sei ein Mittagsschlaf – selbst bei Erwachsenen – von Nutzen.
Schlaf muss sich ergeben. Sobald Anspannung und Stress im Raum stehen, sind wir wach. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt