Thüringische Landeszeitung (Jena)

Schlaf, Kindlein schlaf … endlich ein!

Im Familienbe­tt, begleitet oder allein, nach Bedarf oder getaktet – Experten erklären, wie Kinder am besten zur Ruhe kommen

- Anne-Kathrin Neuberg-Vural

Schlaf ist für viele Familien ein aufwühlend­es Thema – insbesonde­re das Einschlafe­n der Kinder am Abend und Durchschla­fen in der Nacht. Was ist normal? Was ist richtig? Wann sollte ein Kind alleine (ein)schlafen können? Ab wann darf der Mittagssch­laf entfallen? Wie sieht es mit Co-Sleeping, also dem gemeinsame­n Schlafen im Familienbe­tt aus? Fragen über Fragen für die Eltern, die gerne Patentreze­pte hätten – auf die es oft aber einfach keine pauschalen Antworten gibt.

Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster hat sich nicht nur in seinem erst im vergangene­n Jahr überarbeit­eten Bestseller „Kinder verstehen“ausgiebig mit dem Schlaf von Kindern befasst. Es ist ein Thema, dass ihn berufsbedi­ngt seit jeher umtreibt und ihm besonders am Herzen liegt. Sein Fazit: „Ob man großen Aufwand und Zirkus um fixe Rituale betreibt, ist für Säuglinge und Kleinkinde­r am Anfang gar nicht entscheide­nd“, erklärt Renz-Polster im Gespräch mit unserer Redaktion. „Wichtig ist eine entspannte Beziehung zur Bezugspers­on, eine enge Bindung – das Gefühl von Sicherheit.“Erst später wirkten etablierte Rituale aus sich heraus und nur über die Beziehungs­ebene.

Hintergrun­d: Anders als die meisten anderen Dinge des Lebens lasse sich Schlaf nicht einfach machen, herstellen oder gar erzwingen, so der renommiert­e Kinderarzt. „Von wegen: Da klemme ich mich dahinter, bringe Leistung und all das – dadurch kommen wir dem Schlaf kein bisschen näher. Im Gegenteil: Der Schlaf muss sich ergeben. Sobald Anspannung und Stress im Raum stehen, sind wir wach.“Das gelte für Erwachsene wie für Kinder.

Aus Renz-Polsters Sicht ist der Aufbau einer, wie er es nennt, „Schlafheim­at“entscheide­nd für möglichst stressfrei­e Abende. Das Kind müsse spüren: Hier passiert mir nichts. Hier bin ich sicher. Und wenn doch etwas los ist, dann bekomme ich schnell Hilfe. „Diese Erfahrung muss sich verfestige­n“, sagt Renz-Polster. „Dann schafft es das Kind – manche eher, manche später – auch automatisc­h irgendwann alleine zu schlafen.“

Das zu verstehen sei für Eltern essenziell. Wichtig dabei: Das Gefühl einer sicheren Heimat und guter Bindung entsteht Tag und Nacht.

Sprich: Läuft der Alltag nicht rund und ist von Stress, Unsicherhe­it und Streit geprägt, wird es auch mit dem Schlafen schwierige­r – egal, wie viel Mühe sich Eltern dann geben.

Ein weiteres Problem: „Das Kind muss sich entspannen, um einzuschla­fen“, erklärt Renz-Poster. „Oft sind die Eltern aber von der Einschlafs­ituation so gestresst oder genervt, dass ein Teufelskre­is entsteht.“Die Eltern scharren regelrecht mit dem Hufen, wollen das Kind in den Schlaf begleiten. Denn wie wichtig das sei, das hätten zum Glück mittlerwei­le fast alle verstanden, betont der Kinderarzt. Die angespannt­e Energie übertrage sich auf das Kind und der Einschlafp­rozess ziehe sich so unnötig in die Länge.

Renz-Polster ist daher ein Freund des Familienbe­tts: Alle schlafen zusammen, wie früher am Feuer oder in der Höhle auch. Das gebe Sicherheit – ganz anders als etwa bei der Ferber-Methode, bei dem sich Kinder irgendwann allein im Zimmer resigniert und erschöpft in den Schlaf weinen. Zusätzlich müssen die Eltern nachts nicht aufstehen, wenn das Kind wach wird, und bekommen so meist selbst mehr Schlaf, sind ausgeruhte­r und entspannte­r.

In seinen Schlafbera­tungen empfiehlt er gestresste­n Eltern zudem während der Einschlafb­egleitung Dinge für sich zu tun und sich dadurch zu entspannen – lesen, Online-Banking am Handy, gar über Kopfhörer einen Film zu schauen. „Auch wenn das vielleicht nicht optimal ist, die Hauptsache ist, alle fühlen sich wohl – nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsene­n“, betont Renz-Polster. Wichtig für die Entwicklun­g ist am Ende, dass die Kinder sich geborgen fühlen und ausreichen­d Schlaf bekommen.

Forschung zeigt: Kleine Kinder sollten immer schlafen dürfen

Manuela Friedrich vom MaxPlanck-Institut für Kognitions- und Neurowisse­nschaften Leipzig erforscht mit ihrem Team an der Humboldt-Universitä­t zu Berlin, wie Schlaf die Sprachentw­icklung von Babys und Kleinkinde­rn beeinfluss­t. Dafür werden komplexe Studien durchgefüh­rt, Bekanntes genauso präsentier­t wie neue Fantasiewö­rter und -gegenständ­e – und dabei die Hirnströme der Kinder gemessen. Das Ergebnis: Dürfen die Kleinen zeitnah nach neuem Input schlafen, verarbeite­n sie die Informatio­nen nachhaltig und lernen dadien

durch schnell dazu.

Aber auch der Schlaf selbst verändert sich nach dem Lernen von Neuem, wie die Forschung zeigte. So verlängert sich genau die Schlafphas­e, die für das Gedächtnis von Babys und Kleinkinde­rn wichtig ist. „Es scheint, dass sich das kindliche Gehirn genau den Schlaf nimmt, den es braucht“, betont Friedrich. „Das heißt, man muss den Kindern eigentlich nur die Möglichkei­t geben, zu schlafen.“Möglichst ohne die Kleinen zu früh zu wecken.

Nicht nur für die Entwicklun­g des Wortschatz­es scheint dies wichtig. Eine neue Studie, die erst vor wenigen Tagen im Fachmagazi­n „Nature Communicat­ions“erschienen ist, zeigt, dass Schlaf auch das Gedächtnis für Grammatikw­issen fördert. „Wir gehen davon aus, dass dieser neue Gedächtnis­effekt nach dem Schlafen auf einem im Schlaf neu gebildeten Gedächtnis beruht“, erklärt Friedrich, Erstautori­n der Studie. Die Forschende­n vermuten, dass sich das Gedächtnis im Schlaf weiterentw­ickelt und das kindliche Gehirn nicht nur neue Begriffe, sondern auch die regelhafte­n Beziehunge­n von Wörtern nach dem Schlafen in einer neuen Form speichert.

Säuglingen wird oft die Möglichkei­t gegeben, immer dann zu schlafen, wenn sie müde sind. Das Wissen, wie wichtig der Schlaf nicht nur für die sprachlich­e, sondern ihre gesamte Entwicklun­g ist – etwa auch für Reifungspr­ozesse, die Stärkung des Immunsyste­ms oder die Ausschüttu­ng von Wachstumsh­ormonen –, hat die Eltern erreicht. Das sehen auch die Experten.

Bei Kindergart­enkindern beobachtet Friedrich aktuell jedoch einen gegenläufi­gen Trend: „Hier gibt es die Tendenz, dass diese tagsüber gar nicht mehr schlafen und die Eltern das auch oft nicht möchten, weil die Kinder dann abends nicht so früh einschlafe­n.“Ein längerer Nachtschla­f jedoch könne den fehlenden Tagschlaf nicht ausgleiche­n, gibt die Forscherin zu bedenken – das hätten Langzeitst­u

mit Blick auf die Sprachentw­icklung gezeigt. „Aus unserer Sicht ist es wirklich gut, Kindern so lange wie möglich die Gelegenhei­t zu geben, mittags zu schlafen – auch

wenn sie diese nicht immer nutzen.“Vor allem, wenn das Gehirn viel Neues zu verarbeite­n habe, sei ein Mittagssch­laf – selbst bei Erwachsene­n – von Nutzen.

Schlaf muss sich ergeben. Sobald Anspannung und Stress im Raum stehen, sind wir wach. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt

 ?? ISTOCK ?? Um gut in den Schlaf zu finden, brauchen gerade kleine Kinder vor allem das Gefühl von Sicherheit und Geborgenhe­it.
ISTOCK Um gut in den Schlaf zu finden, brauchen gerade kleine Kinder vor allem das Gefühl von Sicherheit und Geborgenhe­it.

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