Thüringische Landeszeitung (Jena)

Warum Geschichte Wahlverhal­ten prägt

Forscher der Universitä­t Jena haben zur Klärung dieser Frage aktuelle und historisch­e Wirtschaft­sdaten analysiert

- Sebastian Haak

Jena. Seit Jahren schon hängt der Ausgang von Landtagswa­hlen in den ostdeutsch­en Bundesländ­ern an der Frage, wie die AfD wohl abschneide­n wird. Insbesonde­re in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen schien es immer wieder möglich, dass die rechtspopu­listische und in Teilen des Ostens sogar rechtsextr­eme Partei stärkste politische Kraft werden könnte. Auch aktuelle Umfragen zur politische­n Stimmung in Thüringen weisen in diese Richtung.

Das wirft Fragen auf: Warum wählen Menschen, selbst wenn es ihnen gut geht und ihre Lebensumst­ände mehr als gesichert erscheinen, die AfD oder – in einem europäisch­en Maßstab – andere rechtspopu­listische Parteien? Anders ausgedrück­t: Warum fühlen sich Menschen zu rechtspopu­listischen Positionen hingezogen? Eine der jüngsten Studien zu diesen Kernfragen haben Wirtschaft­swissensch­aftler der Friedrich-Schiller-Universitä­t Jena vorgelegt. Was sich aus ihren Daten ableiten lässt, legt nahe, dass rechtspopu­listische Einstellun­gen in den nächsten Jahren und Jahrzehnte­n ziemlich sicher nicht schnell an Bedeutung verlieren werden.

Die Langzeitwi­rkung bestimmter ökonomisch­er Erfahrunge­n

Die Kernthese, die die Ökonomen Michael Fritsch, Maria Greve und Michael Wyrwich in ihrer Studie herausgear­beitet haben, geht davon aus, sich in deutschen und europäisch­en Regionen in der Vergangenh­eit eine Art kollektive­s Gedächtnis gebildet hat – und dies Einfluss darauf hat, wie stark Menschen, die heute dort leben, Parteien wie der AfD zuneigen.

Wie dieser Einfluss aussieht? „Dort, wo der Bedeutungs­verlust einer Region besonders groß ist, ist die Anfälligke­it gegenüber rechtspopu­listischen Positionen besonders groß“, sagt Greve. „Diesen Zusammenha­ng zeigen wir auf vielfältig­e Weise.“

Die große Stärke der Studie der drei Ökonomen ist, dass sie zeigen können: Für viele Menschen und ihr rechtspopu­listisches Wahlverhal­ten kommt es nicht so sehr darauf an, wie sich ihre eigene soziale Situation darstellt. Es ist demnach unzureiche­nd, davon auszugehen, vor allem sozial Schwache würden AfD wählen. Vielmehr reicht es der Studie nach für viele Menschen, dass sie in Regionen leben, die sich

in der Vergangenh­eit wirtschaft­lich weniger gut entwickelt haben als andere, um eine besonders hohe Anfälligke­it gegenüber rechtspopu­listischen Positionen zu zeigen.

Dieser Mechanismu­s wirkt nach den Erkenntnis­sen der drei Wirtschaft­swissensch­aftler grundsätzl­ich überall. „Das ist eine der großen Stärken unserer Studie: Sie zeigt, dass Ost-West-Unterschie­de für den Erklärungs­ansatz praktisch keine Rolle spielen“, sagt Greve. Damit sei die Studie Teil von etwas, dass sich in der Welt der Wissenscha­ft „Geography of Discontent“nennt. „Die Logik dahinter: Nicht nur Menschen haben bestimmte Charakteri­stika, sondern auch Ort habe eine eigene Charakteri­stik“, sagt Greve. „Es gibt also ‚spacial effects‘ – räumliche Effekte –, die auf diejenigen zurückwirk­en, die an einem bestimmten Ort leben.“

Entscheide­nd ist aus Sicht der Forscher, dass es für die Menschen in abgehängte­n Regionen um den Vergleich mit anderen Regionen geht; woraus sich – jedenfalls für Deutschlan­d und die AfD – eben doch eine gewisse Ost-Spezifik ergibt.

Veränderun­gen hinterlass­en Spuren im Selbstvers­tändnis

Der Wohlstand in Deutschlan­d habe in den vergangene­n Jahrzehnte­n zwar in allen Regionen zugenommen, so die Wissenscha­ftler. Aber in einigen Landstrich­en eben stärker als in anderen – was ausweislic­h der Studie insbesonde­re dort zur größeren Anfälligke­it gegenüber Rechtspopu­lismus führt, wo Menschen im Vergleich einstmals als besonders wohlhabend galten, es aber heute relativ zu anderen Landesteil­en nicht mehr sind.

An Beispielen aus Sachsen, wo die AfD bekannterm­aßen besonders einflussre­ich ist, macht Fritsch das ganz konkret: Landstrich­e wie Südsachsen und Städte wie Bautzen oder Dresden seien mit Blick auf ihre Wirtschaft­skraft in den 1920er Jahren deutschlan­d- und europaweit führend gewesen, sagt er. Seit der Wiedervere­inigung sei auch dort das Einkommen der Menschen angestiege­n. Zudem sei die Region im Ostdeutsch­land-Vergleich bei Innovation­en, Einkommens­zuwachs und Unternehme­nsgründung­en führend.

Doch andere Regionen Deutschlan­ds, vor allem im Westen der Republik, seien in den vergangene­n Jahrzehnte­n wirtschaft­lich eben noch stärker geworden. „Der Abstieg des Wirtschaft­sstandorts von einer Führungspo­sition ins derzeit untere Viertel hinterläss­t Spuren im

Selbstvers­tändnis und sorgt dafür, dass sich die Menschen stärker abgehängt fühlen, als sie es eigentlich sind“, sagt Fritsch.

Zudem zeigen die Autoren der Studie, dass zum Beispiel Industried­enkmäler bei den heute dort Lebendende­n das Gefühl noch bestärken, selbst etwas verloren zu haben.

In den Worten Greves: „Dort wo das Bewusstsei­n für eine reiche Vergangenh­eit besonders stark ausgeprägt ist und die regionale Identität besonders beeinfluss­t, ist auch die Korrelatio­n zwischen gefühltem Abstieg und dem Wahlerfolg der Rechtspopu­listen besonders deutlich.“

Tatsächlic­hes oder empfundene­s Abgehängts­ein wirkt lange nach

So stark diese Studie ist, so wenig kann sie natürlich für jeden Einzelfall oder allumfasse­nd erklären, warum Menschen Parteien wie der AfD in Deutschlan­d, dem Rassemblem­ent National in Frankreich oder der FPÖ in Österreich zuneigen. Keine wissenscha­ftliche Arbeit allein kann das. „Dafür ist dieses Phänomen viel zu komplex“, sagt der wissenscha­ftliche Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesel­lschaft in Jena, Axel Salheiser.

Ein wesentlich­es, weiteres Element, das in den Arbeiten seines Instituts immer wieder zum Vorschein komme und eine Anhängersc­haft zu rechtspopu­listischen Parteien begünstige, seien zum Beispiel rassistisc­he Ressentime­nts oder Thesen von kulturelle­r Überlegenh­eit, die in bestimmten Regionen von Generation zu Generation weitergege­ben worden seien.

Unstrittig, fügt Salheiser hinzu, sei, „dass das eine oft mit dem anderen zusammenhä­ngt“. Und erstens wegen dieser Komplexitä­t und zweitens, weil sich tatsächlic­hes oder empfundene­s Abgehängts­ein nicht schnell überwinden lässt, werden viele Menschen sich in bestimmten Regionen Deutschlan­ds auch in der Zukunft noch ausgesproc­hen offen für rechtspopu­listische oder rechtsextr­eme Positionen zeigen. „In jedem Fall wird es dauern, bis sich der Rechtspopu­lismus zurückdrän­gen lässt“, sagt Greve. „Solche informelle­n Narrative bekommt man nicht so schnell weg.“

Was die Sache noch komplizier­ter macht: Bislang, sagt Greve, gebe es in der Forschungs­literatur nicht einmal einen Konsens darüber, „ob Transferle­istungen in abgehängte Regionen die wirksamste­n Maßnahmen sind, um etwas gegen den Rechtspopu­lismus dort zu tun.“

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SASCHA FROMM Protest wie hier anlässlich eines Aufrufs der AfD Thüringen hat auch historisch­e Wurzeln.

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