Thüringische Landeszeitung (Jena)
Warum Geschichte Wahlverhalten prägt
Forscher der Universität Jena haben zur Klärung dieser Frage aktuelle und historische Wirtschaftsdaten analysiert
Jena. Seit Jahren schon hängt der Ausgang von Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern an der Frage, wie die AfD wohl abschneiden wird. Insbesondere in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen schien es immer wieder möglich, dass die rechtspopulistische und in Teilen des Ostens sogar rechtsextreme Partei stärkste politische Kraft werden könnte. Auch aktuelle Umfragen zur politischen Stimmung in Thüringen weisen in diese Richtung.
Das wirft Fragen auf: Warum wählen Menschen, selbst wenn es ihnen gut geht und ihre Lebensumstände mehr als gesichert erscheinen, die AfD oder – in einem europäischen Maßstab – andere rechtspopulistische Parteien? Anders ausgedrückt: Warum fühlen sich Menschen zu rechtspopulistischen Positionen hingezogen? Eine der jüngsten Studien zu diesen Kernfragen haben Wirtschaftswissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorgelegt. Was sich aus ihren Daten ableiten lässt, legt nahe, dass rechtspopulistische Einstellungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ziemlich sicher nicht schnell an Bedeutung verlieren werden.
Die Langzeitwirkung bestimmter ökonomischer Erfahrungen
Die Kernthese, die die Ökonomen Michael Fritsch, Maria Greve und Michael Wyrwich in ihrer Studie herausgearbeitet haben, geht davon aus, sich in deutschen und europäischen Regionen in der Vergangenheit eine Art kollektives Gedächtnis gebildet hat – und dies Einfluss darauf hat, wie stark Menschen, die heute dort leben, Parteien wie der AfD zuneigen.
Wie dieser Einfluss aussieht? „Dort, wo der Bedeutungsverlust einer Region besonders groß ist, ist die Anfälligkeit gegenüber rechtspopulistischen Positionen besonders groß“, sagt Greve. „Diesen Zusammenhang zeigen wir auf vielfältige Weise.“
Die große Stärke der Studie der drei Ökonomen ist, dass sie zeigen können: Für viele Menschen und ihr rechtspopulistisches Wahlverhalten kommt es nicht so sehr darauf an, wie sich ihre eigene soziale Situation darstellt. Es ist demnach unzureichend, davon auszugehen, vor allem sozial Schwache würden AfD wählen. Vielmehr reicht es der Studie nach für viele Menschen, dass sie in Regionen leben, die sich
in der Vergangenheit wirtschaftlich weniger gut entwickelt haben als andere, um eine besonders hohe Anfälligkeit gegenüber rechtspopulistischen Positionen zu zeigen.
Dieser Mechanismus wirkt nach den Erkenntnissen der drei Wirtschaftswissenschaftler grundsätzlich überall. „Das ist eine der großen Stärken unserer Studie: Sie zeigt, dass Ost-West-Unterschiede für den Erklärungsansatz praktisch keine Rolle spielen“, sagt Greve. Damit sei die Studie Teil von etwas, dass sich in der Welt der Wissenschaft „Geography of Discontent“nennt. „Die Logik dahinter: Nicht nur Menschen haben bestimmte Charakteristika, sondern auch Ort habe eine eigene Charakteristik“, sagt Greve. „Es gibt also ‚spacial effects‘ – räumliche Effekte –, die auf diejenigen zurückwirken, die an einem bestimmten Ort leben.“
Entscheidend ist aus Sicht der Forscher, dass es für die Menschen in abgehängten Regionen um den Vergleich mit anderen Regionen geht; woraus sich – jedenfalls für Deutschland und die AfD – eben doch eine gewisse Ost-Spezifik ergibt.
Veränderungen hinterlassen Spuren im Selbstverständnis
Der Wohlstand in Deutschland habe in den vergangenen Jahrzehnten zwar in allen Regionen zugenommen, so die Wissenschaftler. Aber in einigen Landstrichen eben stärker als in anderen – was ausweislich der Studie insbesondere dort zur größeren Anfälligkeit gegenüber Rechtspopulismus führt, wo Menschen im Vergleich einstmals als besonders wohlhabend galten, es aber heute relativ zu anderen Landesteilen nicht mehr sind.
An Beispielen aus Sachsen, wo die AfD bekanntermaßen besonders einflussreich ist, macht Fritsch das ganz konkret: Landstriche wie Südsachsen und Städte wie Bautzen oder Dresden seien mit Blick auf ihre Wirtschaftskraft in den 1920er Jahren deutschland- und europaweit führend gewesen, sagt er. Seit der Wiedervereinigung sei auch dort das Einkommen der Menschen angestiegen. Zudem sei die Region im Ostdeutschland-Vergleich bei Innovationen, Einkommenszuwachs und Unternehmensgründungen führend.
Doch andere Regionen Deutschlands, vor allem im Westen der Republik, seien in den vergangenen Jahrzehnten wirtschaftlich eben noch stärker geworden. „Der Abstieg des Wirtschaftsstandorts von einer Führungsposition ins derzeit untere Viertel hinterlässt Spuren im
Selbstverständnis und sorgt dafür, dass sich die Menschen stärker abgehängt fühlen, als sie es eigentlich sind“, sagt Fritsch.
Zudem zeigen die Autoren der Studie, dass zum Beispiel Industriedenkmäler bei den heute dort Lebendenden das Gefühl noch bestärken, selbst etwas verloren zu haben.
In den Worten Greves: „Dort wo das Bewusstsein für eine reiche Vergangenheit besonders stark ausgeprägt ist und die regionale Identität besonders beeinflusst, ist auch die Korrelation zwischen gefühltem Abstieg und dem Wahlerfolg der Rechtspopulisten besonders deutlich.“
Tatsächliches oder empfundenes Abgehängtsein wirkt lange nach
So stark diese Studie ist, so wenig kann sie natürlich für jeden Einzelfall oder allumfassend erklären, warum Menschen Parteien wie der AfD in Deutschland, dem Rassemblement National in Frankreich oder der FPÖ in Österreich zuneigen. Keine wissenschaftliche Arbeit allein kann das. „Dafür ist dieses Phänomen viel zu komplex“, sagt der wissenschaftliche Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, Axel Salheiser.
Ein wesentliches, weiteres Element, das in den Arbeiten seines Instituts immer wieder zum Vorschein komme und eine Anhängerschaft zu rechtspopulistischen Parteien begünstige, seien zum Beispiel rassistische Ressentiments oder Thesen von kultureller Überlegenheit, die in bestimmten Regionen von Generation zu Generation weitergegeben worden seien.
Unstrittig, fügt Salheiser hinzu, sei, „dass das eine oft mit dem anderen zusammenhängt“. Und erstens wegen dieser Komplexität und zweitens, weil sich tatsächliches oder empfundenes Abgehängtsein nicht schnell überwinden lässt, werden viele Menschen sich in bestimmten Regionen Deutschlands auch in der Zukunft noch ausgesprochen offen für rechtspopulistische oder rechtsextreme Positionen zeigen. „In jedem Fall wird es dauern, bis sich der Rechtspopulismus zurückdrängen lässt“, sagt Greve. „Solche informellen Narrative bekommt man nicht so schnell weg.“
Was die Sache noch komplizierter macht: Bislang, sagt Greve, gebe es in der Forschungsliteratur nicht einmal einen Konsens darüber, „ob Transferleistungen in abgehängte Regionen die wirksamsten Maßnahmen sind, um etwas gegen den Rechtspopulismus dort zu tun.“